Doch seit dem 24. Mai 2006 verbindet die beiden viel mehr. In ihren Briefkästen lag eine Anfrage zur Untersuchung einer ungeheuerlichen Anschuldigung. China wurde vorgeworfen, massenhaft Organe von inhaftierten Anhängern der Religionsbewegung Falun Gong zu entnehmen und teuer zu verkaufen, vor allem ins Ausland. Die "Koalition zur Untersuchung der Verfolgung von Falun Gong in China", eine in Washington registrierte Nichtregierungsorganisation, bat Kilgour und Matas, diese Gerüchte zu überprüfen. Die beiden fanden schließlich so viele Indizien, dass sich die schweren Vorwürfe kaum entkräften lassen. Sorgfältig und detailliert legten sie die Ergebnisse ihrer Recherchen in einem ersten Bericht vom Juli 2006 und einem zweiten vom Januar 2007 nieder.
Seitdem hat sich das Leben der beiden Männer geändert. Unermüdlich reisen sie von Land zu Land, um ihre Erkenntnisse weiterzugeben. Sie sprechen vor Parlamenten, vor Regierungsmitgliedern, vor den Vereinten Nationen. Gestern gaben sie auf Einladung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Königstein bei Bonn eine Pressekonferenz.
Auch in China änderte sich einiges seit den Recherchen von Matas und Kilgour. Zwar wehrt die chinesische Regierung alle Vorwürfe ab, dass Falun-Gong-Gefangene als eine Art lebende Organbank dienen. Kilgour und Matas wollten nur "Chinas Image beschmutzen", heißt es. 2008 ist Peking schließlich Gastgeber der Olympischen Spiele, da ist die Regierung besonders um ihr Außenbild besorgt. Unter dem Druck zunehmender internationaler Kritik trat am 1. Juli 2006 dann sogar ein Gesetz in Kraft, das den Organhandel generell verbietet. Potenzielle Spender müssen nun schriftlich die Erlaubnis zur Entnahme ihrer Nieren, Bauchspeicheldrüsen oder Augenhornhäute erteilen.
Kilgour und Matas sind davon überzeugt, dass dieses Gesetz die bisherige Praxis des Organhandels nicht grundsätzlich unterbunden hat. "In China existiert ein riesiger Unterschied zwischen der Einführung eines Gesetzes und dessen Umsetzung", sagt Kilgour, der das Land als Staatssekretär mehrmals besucht hat. "Der lukrative Verkauf menschlicher Körperteile aber geht ungebremst weiter." So wird in dem zweiten Report berichtet, dass der belgische Abgeordnete Patrik Vankrukelsven im November 2006 zwei Krankenhäuser in Peking anrief. Er gab vor, Kunde für ein Nierentransplantat zu sein. Beide Einrichtungen boten ihm sofort ein Organ für umgerechnet 50 000 Euro an.
Nicht zuletzt Chinas Vizegesundheitsminister Huang Jiefu gab im November 2006 zu, dass die allermeisten in China transplantierten Organe von hingerichteten "Verbrechern" stammten. "Diese Geschäfte unter der Hand müssen verboten werden", sagte Huang damals, dabei waren "diese Geschäfte" ja eigentlich seit Juli verboten.
"Knallharte Beweise haben wir nicht", räumt Kilgour ein, der vor seiner Politikerkarriere als Staatsanwalt arbeitete. Matas springt ihm bei: "Das liegt in der Natur der Sache." Die Organentnahme findet im Geheimen statt. Nach der "Ernte" werden die Leichen verbrannt. Kilgour und Matas baten um Einreise nach China, damit sie den Anschuldigungen vor Ort nachgehen könnten. Doch sie bekamen kein Visum.
Doch die Vielzahl der Indizien ist für Kilgour und Matas eindeutig. Sie sind überzeugt, dass Praktizierende der Bewegung Falun Gong, die in China 1999 als "bösartige Sekte" verboten wurde, "im Verlauf einer Operation oder unmittelbar danach getötet" werden. Angehörige von in Gefangenschaft gestorbenen Falun-Gong-Anhängern berichteten außerdem, dass die Leichname chirurgische Einschnitte aufwiesen oder Körperteile fehlten. Im Klartext: Mord in Form von Organentnahme. "Oft genug sind wir selbst ungläubig und entsetzt vor den Ergebnissen unserer Untersuchungen zurückgewichen", sagt Kilgour. Matas, der viele Holocaust-Opfer vertreten hat, erinnert an den Mord an Millionen Juden: "Seitdem ist es unmöglich, Grausamkeiten auszuschließen."
In China selbst scheint das Bewusstsein für diese Grausamkeiten nur erstaunlich wenig ausgeprägt. Bis Juli warben chinesische Krankenhäuser offen auf ihren Internet-Seiten mit "frischer Ware". So hieß es auf der Website der Internationalen Transplantationsnetzwerkzentrale China der Stadt Shenyang: "Unsere Organe stammen nicht von hirntoten Opfern, weil der Zustand der Organe unter Umständen nicht so gut sein könnte." Außerdem wurden die geringen Wartezeiten angepriesen: "Es dauert vielleicht eine Woche, bis wir einen passenden Nierenspender finden", stand auf der Website des Internationalen Chinesischen Transplantationsbetreuungszentrums. "Die höchste Wartezeit beträgt einen Monat." Dagegen warten in westlichen Ländern Empfänger in der Regel mehrere Jahre. Das Betreuungszentrum gab auch Preislisten für Organe an: eine Niere für 62 000 Dollar, eine Leber für 100 000 Dollar, ein Herz für etwa 150 000 Dollar. Seit Juli 2006 wurden alle diese Anzeigen im Internet gelöscht. Unverhohlen gaben allerdings viele Ärzte telefonisch Auskunft. "Wir wählen vor allem junge und gesunde Nieren aus", sagte ein Dr. Zhu vom Krankenhaus der Militärregion Guangzhou im April 2006. Mehrere Nieren von Falun-Gong-Anhängern seien "auf Sendung".
Zwar seien grundsätzlich alle Hingerichteten potenzielle Opfer von Organentnahmen gegen ihren Willen, sagen Matas und Kilgour. Aber Falun-Gong-Anhänger bilden eine Gruppe von Gefangenen, die chinesische Behörden besonders entwürdigend behandeln. Die Partei sieht in der Bewegung eine Gefahr für ihr Herrschaftsmonopol. "In einem Klima des Hasses werden Falun-Gong-Gefangene besonders häufig Opfer von Gewalt", sagt Matas. Auch der UN-Sonderberichterstatter Manfred Nowak hatte dies in seinem Folterbericht vom vergangenen Jahr bestätigt. Zudem stellten Falun-Gong-Anhänger "ideale Spender" dar, schreiben Kilgour und Matas in ihrer Untersuchung. Sie seien eher jung, würden weder rauchen noch trinken.
Hauptbelastungszeugin ist "Annie", die frühere Frau eines Chirurgen, der in dem Krankenhaus Sujiatun in der nordwestlichen Provinz Liaoning Augenhornhäute von rund 2000 Falun-Gong-Anhängern entnommen haben will. Kilgour, der "Annie" interviewte, hält ihre Aussagen aufgrund ihrer Detailgenauigkeit für glaubwürdig. "Sie steht Falun Gong in keiner Weise nahe", betont er. Der bekannte US-Menschenrechtler Harry Wu, der gewiss nicht in dem Verdacht steht, die chinesische Regierung decken zu wollen, zweifelte später die Wahrheit von "Annies" Aussagen an - und provozierte damit einen öffentlichen Streit über die Glaubwürdigkeit des Organberichts. Es gebe keine Hinweise darauf, dass Sujiatun eine Art "Konzentrationslager" für Falun-Gong-Anhänger sei, sagte er. Doch Kilgour und Matas bleiben bei ihrer Darstellung. "Harry Wus Recherchen waren nicht sorgfältig", sagen sie.
Für sie ist besonders frappierend, dass seit 1999, dem Jahr, als Falun Gong in China verboten wurde, die Anzahl der Transplantationen sprunghaft zunahm. Während zwischen 1994 und 1999 nach offiziellen Angaben 18 500 Organe verpflanzt wurden, waren es zwischen 2000 und 2005 bereits 60 000. Mit dem Geld verschafften sich die finanziell notorisch klammen Krankenhäuser und Ärzte enorme Zusatzeinnahmen, vermuten Kilgour und Matas. Nicht zuletzt das Militär profitiere sehr davon, denn es betreibt viele Krankenhäuser.
Dem Bericht zufolge wurden sogar mehrere Gefangene getötet, um für gut zahlende Kunden ein passendes Organ zu finden. So traf Kilgour einen Mann, dem 2003 im Ersten Volkskrankenhaus in Shanghai insgesamt acht Nieren angeboten wurden. Stets passten seine Blutwerte und Antikörper nicht mit denen der Spender zusammen. Bei der letzten, dann auch transplantierten Niere sagte der operierende Chirurg, diese stamme von einem hingerichteten Gefangenen. "Die Verschwendung an Organen in China ist enorm", sagt Kilgour. "Die Ärzte können sich einen Mangel an Sorgfalt leisten." Bei offiziell mehr als 1600 Hingerichteten im Jahr gebe es schließlich immer Nachschub.