FAZ, 11.04.02: Fototermin in bezauberndem Sonnenlicht
Die Bundesregierung spielt Reiseveranstalter für Jiang Zemin
FRANKFURT, 10. April. Die Schloßanlage Sanssouci in Potsdam erfüllt wie kaum ein anderer Ort die ästhetischen Kriterien, die chinesische Touristen an den optimalen Hintergrund für ihre Reisebilder stellen. Der Tourist Jiang Zemin ist hier keine Ausnahme. Sein Fotoalbum wird in Peking zusammengestellt, in den Redaktionen der staatlich gelenkten Medien, die schon bildlich festhielten, wie Ministerpräsident Zhu Rongji seinem Präsidenten zum Abschied in der Großen Halle des Volkes die Hand reichte. Als Jiang Zemin in Berlin eintraf, so ließ sich der "Volkszeitung" entnehmen, sei die Stadt in "bezauberndes Sonnenlicht getaucht" gewesen, wodurch das "geschichtsträchtige Rote Rathaus außergewöhnlich imposant erschien". Vor dem Eingang hätten chinesische Auslandsstudenten mit Willkommensbannern Jiang empfangen, außerdem seien "nicht wenige Berliner Bürger" unter den Wartenden gewesen.
Die Bürger, die das deutsche Fernsehpublikum am Abend zu sehen bekam, waren dagegen gar nicht gut auf den chinesischen Präsidenten zu sprechen. Selten bekommt der Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker, die am Montag beim Generalbundesanwalt gegen Jiang Zemin Strafanzeige wegen Nichtbeachtung der Anti-Folter-Konvention gestellt hatte, in den Abendnachrichten so viel Sendezeit. Menschenrechtsorganisationen und Vereine von Tibetern und Uiguren im Exil standen im Zentrum der hiesigen Berichterstattung. "Mehr als 100 Tote" und "Allein im März 5000 Festnahmen", war auf den Bannern zu lesen, die etwa 100 Falun-Gong-Anhänger am Mittwoch auch mit nach Potsdam brachten.
Diesen Schwerpunkt hätte Jiang vermeiden können, indem er sich bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Schröder den Fragen der Journalisten gestellt hätte. Doch offenbar kümmert das deutsche Medienecho einen chinesischen Machthaber wenig, wichtig sind die Bilder, die nach Peking gehen. Die einzigen Worte, die während dieser Reise bisher aus Jiangs Mund an die deutsche Öffentlichkeit gedrungen sind, waren eine inhaltlich belanglose Rede vor der Gesellschaft für Auswärtige Politik am Mittwoch in Berlin. An diesem Donnerstag wird Jiang in Dresden erwartet, am Freitag wird er unter massiven Sicherheitsvorkehrungen das VW-Werk in Wolfsburg besuchen und in einem Panoramabus durch Goslar fahren.
In vielem ähnelt dieses Prozedere Jiangs letzter Deutschland-Reise im Juli 1995. Auch damals wurden Regierungsabkommen unterzeichnet, auch damals wurden die Wirtschaftsbeziehungen gepriesen, auch damals hatte Jiang sich ausbedungen, nicht mit Demonstranten konfrontiert zu werden - nachdem der damalige Ministerpräsident Li Peng, einer der Hauptverantwortlichen für die Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung, ein Jahr zuvor aus Angst vor Protesten einen Besuch am Brandenburger Tor in Berlin abgesagt hatte. Wie damals wird über Menschenrechtsverletzungen in China nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen.
Auch scheint die deutsche Seite die Interpretationshoheit über diese Reise weitgehend an Peking abgetreten zu haben. Nachdem die deutschen Medien vom offiziellen Teil des Besuchs neben der Unterzeichnung zweier Bildungs- und Kulturabkommen sowie einer Äußerung der Sprecherin von Bundespräsident Rau, wonach die beiden Staatsoberhäupter auch über Menschenrechte gesprochen hätten, nicht viel zu melden hatten, berichtete die englischsprachige "China Daily" von gemeinsamen Interessen, die Rau in bezug auf Terrorismusbekämpfung und Umweltschutz verzeichnet habe.
1995 hielt sich Jiang Zemin bei seinem Besuch in der Bonner Republik neben dem Rheinland auch in Bayern und in Baden-Württemberg auf, diesmal besucht er, ausgehend von der neuen Hauptstadt, Brandenburg, Sachsen und Niedersachsen. Während 1995 Siemens und Daimler-Benz mit Joint-venture-Verträgen bedacht wurden, soll diesmal der Kooperationsvertrag mit Volkswagen verlängert werden. Die Partei Bündnis 90/Die Grünen geißelte damals den höflichen Empfang für Jiang Zemin als Kriegserklärung Bonns an die chinesische Demokratiebewegung; heute steht die rot-grüne Bundesregierung ihrer Vorgängerin an Rücksichtnahme auf den Gast an nichts nach. Jiang Zemin dankte den Deutschen ihre Freundschaft vor Antritt seiner Reise mit dem Versprechen, Deutschlands Wunsch nach Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu unterstützen - ein Ansinnen, für das er 1995 nur vorsichtiges Verständnis geäußert hatte. Der chinesische Wunsch nach einer aktiveren Rolle Deutschlands als Gegengewicht zu einem befürchteten Unilateralismus der Vereinigten Staaten ist seit Bekanntwerden von Bushs Irak-Plänen deutlicher in den Vordergrund getreten.
Doch war es trotz des Konkurrenzverhältnisses zu Amerika im Februar möglich, daß der amerikanische Präsident Bush in einer Rede vor Pekinger Studenten die Religionsfreiheit verteidigte und daß er gemeinsam mit Jiang Zemin vor die Presse trat, wo letzterer bei Fragen zur Unterdrückung von Falun Gong eine unglückliche Figur machte. Das Regime in China hat in den vergangenen Jahren am brutalen Umgang mit Regimegegnern festgehalten - ihr Auftreten im Ausland haben die Machthaber aber sehr wohl verändert: Auf internationalen Druck hin gibt sich die chinesische Regierung heute insgesamt moderner, professioneller und dialogbereiter. Doch Deutschland im April 2002 ist ein Termin fürs Fotoalbum.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.04.2002, Nr. 84 / Seite 3
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