(Minghui.org) Im Buch Shuowen Jiezi wird das Schriftzeichen „忍“ (rěn, Nachsicht) als „能“ (néng, Fähigkeit) erklärt, was mit dem „Bären“ in Verbindung steht. Der Bär wiederum wird als „Wesen mit innerer Stärke“ beschrieben, was Weisheit und Fähigkeit impliziert. Aufgrund seiner Kraft und Stärke wurde er auch zum Symbol für außergewöhnliches Talent.
Der Gelbe Kaiser, Stammvater der Huaxia, trug den Titel „Youxiong“ („des Bären“). In dem Buch Klassiker der Berge und Meere verwandelte sich Yu der Große, als er die Gewässer kontrollierte, in einen göttlichen Bären, um Berge zu öffnen und die Wildnis zu durchschneiden – eine Verkörperung der Weisheit, Widerstandsfähigkeit und Ausdauer des Bären. Diese alten Überlieferungen haben unser Verständnis der tiefgründigen Konnotationen und des Geistes, die in der Tugend „ren“ („Nachsicht“ oder „Durchhaltevermögen“) enthalten sind, bereichert.
Su Wu hütet Schafe
Um 100 v. Chr., als die Xiongnu (ein Stammesverband nomadischer Völker, die im Norden Chinas lebten) Anzeichen für Versöhnungsbestrebungen mit der Han-Dynastie zeigten, sandte Kaiser Wu von Han (156–87 v. Chr.) Su Wu (140–60 v. Chr.) als Zeichen der Wertschätzung mit einer Delegation von über 100 Personen auf diplomatische Mission zu den Xiongnu.
Gerade als die Gruppe sich auf die Rückkehr ins Gebiet der Han vorbereitete, kam es zu inneren Unruhen unter den Xiongnu. Dabei wurden Su Wu und seine Delegation gefangen genommen. Man forderte sie auf, sich zu ergeben und den Herrschern der Xiongnu zu dienen. Su Wu weigerte sich, dem nachzukommen.
Zunächst schickte der Chanyu (der Herrscher der Xiongnu) einen Han-Beamten, der sich ergeben hatte, um Su Wu mit Geld und Ämtern zur Zusammenarbeit zu bestechen. Aber Su Wu lehnte den Vorschlag entschieden ab. Daraufhin befahl der Chanyu, Su Wu in einen Keller zu sperren und ihm Nahrung und Wasser vorzuenthalten, in der Hoffnung, dass eine solche Folter ihn zum Einlenken zwingen würde. Es war Winteranfang, eiskalt und verschneit. Su Wu litt schrecklich, überlebte jedoch mehrere Tage, indem er Schnee aß und an Schafspelzfetzen nagte.
Um seinen Willen zu brechen, verbannte der Chanyu ihn in die karge Wildnis nahe dem Nordmeer (dem heutigen Baikalsee), um dort Schafe zu hüten. Er verspottete Su Wu mit den Worten: „Du wirst erst dann zu deinem Han-Kaiser zurückkehren, wenn Widder Lämmer gebären!“ Su Wu war in der Wildnis auf sich allein gestellt, nur mit einem großen verzierten Stab aus Holz – einer kaiserlichen Insigne, die die Han-Dynastie repräsentierte – als Begleiter. Er erhielt keine Nahrung und musste sich von wilden Pflanzen, Eis und allem, was er sonst noch finden konnte, ernähren. Als das Wetter kälter wurde, kauerte er sich zwischen die Schafe, um sich warm zu halten.
Da der Chanyu wusste, wie sehr Su Wu litt, schickte er einen anderen gefügigen Han-Beamten, um ihn zur Aufgabe zu überreden. Das war jedoch reine Zeitverschwendung. Su Wu sagte zu dem Beamten: „Ich bin schon lange bereit zu sterben. Wenn du darauf bestehst, dass ich mich ergebe, beenden wir dieses Gespräch sofort und ich kann vor deinen Augen sterben.“
Als der Beamte seine unerschütterliche Loyalität und Aufrichtigkeit sah, seufzte er und sagte: „Wirklich ein Held! Unsere Versuche, ihn zum Verrat zu bewegen, sind abscheulich.“ Tränen rollten ihm über die Wangen, als er sich von Su Wu verabschiedete.
Tag für Tag hütete Su Wu die Schafe mit dem Holzstab, den ihm Kaiser Wu aus der Han-Dynastie verliehen hatte. Mit der Zeit nutzen sich die Schnüre und Verzierungen vom Stab ab.
19 Jahre vergingen und Su Wus Haare und Bart wurden weiß.
Durch Zufall kam Kaiser Wu zu Ohren, dass Su Wu noch lebte. Es gelang ihm, Su Wu zu finden und nach Hause zu bringen. Als Su Wu in die Hauptstadt Chang’an zurückkehrte, hielt er immer noch den abgenutzten Stab in Händen, der ihm so viele Jahre zuvor verliehen worden war.
Su Wu wurde zu einem Symbol für Loyalität, Integrität und Ausdauer. Seine Geschichte wird in China von Generation zu Generation als „Su Wu hütet Schafe“ weitergegeben.
„Lass den Speichel auf deinem Gesicht trocknen“
Während der Herrschaft von Kaiserin Wu Zetian aus der Tang-Dynastie (624–705) war Lou Shide (630–699) Kanzler, als sein jüngerer Bruder Lou Siying zum Präfekten der Präfektur Dai ernannt wurde.
Als Lou Siying sich darauf vorbereitete, seinen neuen Posten anzutreten, fragte Lou Shide seinen jüngeren Bruder: „Ich bin Kanzler und du bist jetzt Präfekt der Präfektur Dai. Diese hohen Ehren werden sicherlich Neid gegen unsere Familie hervorrufen. Wie willst du dein Leben schützen?“ – „Von nun an werde ich, selbst wenn mir jemand ins Gesicht spuckt, nicht zurückschlagen. Ich werde es einfach abwischen. Ich werde dir keinen Grund zur Sorge geben“, antwortete Lou Siying. „Nun, genau das macht mir Sorgen“, merkte Lou Shide an. „Wenn dir jemand ins Gesicht spuckt, bedeutet das, dass er wütend auf dich ist. Wenn du es abwischst, zeigst du, dass du darüber unglücklich bist, was die Person noch wütender machen wird. Du solltest es einfach mit einem Lächeln akzeptieren und die Spucke auf deinem Gesicht trocknen lassen.“
So entstand das Sprichwort „Lass die Spucke auf deinem Gesicht trocknen“, was bedeutet, dass man Demütigungen still und ohne den Wunsch nach Vergeltung ertragen kann.
Fähig und bescheiden
Ohne dass Di Renji (630–704) davon wusste, empfahl Lou Shide ihn für das Amt des Kanzlers. Nachdem er Kanzler geworden war, grenzte er er Lou Shide mehrfach aus und versetzte ihn sogar auf einen Posten außerhalb der Hauptstadt.
Als Kaiserin Wu Zetian dies bemerkte, fragte sie Di Renjie: „Ist Lou Shide kompetent?“ – „Als General war er umsichtig und fleißig, aber ich weiß nicht, ob er auch kompetent war“, antwortete Di Renjie. „Verfügt er über eine gute Menschenkenntnis?“, wollte die Kaiserin wissen. „Ich habe mit ihm zusammengearbeitet, aber ich habe nie gehört, dass er über eine gute Menschenkenntnis verfügt“, erwiderte Di Renjie. „Nun, ich habe dich zum Kanzler ernannt, weil Lou Shide dich empfohlen hat, also muss er eine gute Menschenkenntnis besitzen“, entgegnete Kaiserin Wu Zetian und zeigte Di Renjie Liu Shides Empfehlungsschreiben.
Daraufhin schämte sich Di Renjie so sehr, dass er seufzend eingestand: „Lord Lou ist so tugendhaft. Ich wusste nicht, wie nachsichtig er mir gegenüber war. Ich bin ihm so sehr unterlegen!“
Epilog
Laozi (571–470 v. Chr.) schrieb im Tao Te King: „Ewige Tugend verlässt ihn nicht, Heim kehrt er wieder zur Kindheit.“ [1] und „Ewige Tugend verfehlt ihn nicht, Heim kehrt er zum Grenzenlosen.“ [2]
Weise Menschen handeln nach festen moralischen Wahrheiten und lassen sich nicht von Macht, Ruhm oder Reichtum verführen oder täuschen. Sie sind von Natur aus aufrichtig, folgen nicht der Masse oder schmeicheln sich bei den Mächtigen ein, sodass sie in ihrem Verhalten nicht die Fehler wie gewöhnliche Menschen zeigen.
Angesichts extremer Widrigkeiten hielt Su Wu mit außergewöhnlicher Beharrlichkeit durch, hielt an seiner Mission fest und kam nie ins Straucheln: „Ewige Tugend verlässt ihn nicht.“
Lou Shide, Kanzler und berühmter General der Tang-Dynastie, zeigte außergewöhnliche Großzügigkeit und Nachsicht. Er empfahl tugendhafte und fähige Menschen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten: „Ewige Tugend verfehlt ihn nicht.“
Sowohl Su Wu als auch Lou Shide wurden von späteren Generationen als Vorbilder bei der Kultivierung von Nachsicht angesehen.
[1], [2]: Lao-tse. Tao-Te-King. Das Buch vom Weg und von der Tugend: Lao-tse – Erläuterungen; Weltreligionen – 14229 (Reclams Universal-Bibliothek) (German Edition) (S. 36). Reclam Verlag. Kindle-Version.
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