Frankfurter Rundschau, 27.06.02: Der Glücksdrache ist flügellahm
Fünf Jahre nach der Rückkehr der ehemaligen Kronkolonie Hongkong zu China ist die Stimmung gedrückt
Sie glitzern noch, die Hochhäuser von Hongkong. Wer mit der alten britischen Star-Ferry im Victoria Hafen anlegt, dem verschlägt diese Stadt den Atem. Die mächtigen Hochhäuser der Banken und Luxushotels ragen in graue Regenwolken. Menschenmassen schieben sich durch klimatisierte Shopping-Malls, in denen Designerläden Gucci-Handtaschen und Schweizer Uhren verkaufen. Auf riesigen TV-Bildschirmen flimmert Reklame für die neuesten Handys. Sieht so eine Krise aus? Die Stimmung ist nicht gut in der ehemaligen britischen Kronkolonie.
Geschäftsleute klagen, dass die Menschen weniger Geld ausgeben. Immobilienbesitzer stöhnen über niedrige Mieteinnahmen. Seit dem 11. September hagelte es neue schlechte Nachrichten. Einheimische Firmen gehen Bankrott, ausländische ziehen weg. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordhoch von 7,4 Prozent. Das alles wäre nichts Besonderes. Andere asiatische Metropolen wie Singapur leiden ebenfalls unter der schlechten Weltwirtschaft. Doch Hongkong steht vor einem besonderen Datum. Am 1. Juli jährt sich zum fünften Mal die Rückgabe der britischen Kolonie an die Volksrepublik China. Und viele fragen sich: Was ist seit dem Machtwechsel schief gelaufen? 156 Jahre gehörte der kleine Flecken am Südzipfel Chinas zur britischen Krone. Die Hochhausmetropole war mehr als nur eine Stadt. Sie schrieb mit an der Erfolgsgeschichte Asiens, mit Wolkenkratzern so hoch wie die Träume der 6,5 Millionen Menschen. Hongkong war der Schwanz des chinesischen Drachens, das Tor zum Markt der eine Milliarde Chinesen. Das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt lag höher als in England, die Kreativität und die Tatkraft der Hongkonger waren berühmt.
Der Aufstieg zum Victoria Peak war zu steil? Kein Problem, man baute einfach die längste Rolltreppe der Welt. Es gab keinen Platz für einen neuen Flughafen? Man schüttete eine künstliche Insel auf und errichtete darauf den damals teuersten Flughafen der Erde. Für Hongkongs Aufstieg schien es keine Grenzen zu geben. Dabei waren bereits 1997 die Zeichen der Krise sichtbar. Während die Wohlhabenden im Hongkong Klub festliche Dinner für Zehntausende Dollar veranstalteten, kratzten in Kowloon alte Frauen den Müll von der Straße.
Das äußere Bild Hongkongs hat sich nicht verändert. Im Banken- und Geschäftsdistrikt Central wachsen neue Wolkenkratzer in den Himmel. In den noblen Villenvierteln auf dem Peak veranstalten die Tai Tais, die markenbewussten Ehefrauen der reichen Hongkonger Elite, noch immer rauschende Wohltätigkeits-Galas.
Es ist mehr die Stimmung, die sich verändert hat. Pessimismus macht sich breit. Ausgerechnet vom Aufstieg Chinas, dessen wirtschaftliche Öffnung der Stadt so viel Wohlstand gebracht hat, fühlen sich die Hongkonger bedroht. Warum sollen sich Firmen in Zukunft noch in Hongkong niederlassen, wenn sie in Schanghai mitten im chinesischen Markt sein können, fragt man sich. Früher seien die Menschen aus China nach Hongkong gekommen, um dort ihr Glück zu suchen, sagt Sonny Lo von der Universität Hongkong. "Heute siedeln viele Hongkonger nach Shenzhen oder in andere südchinesische Städte um", beobachtet der Politikwissenschaftler. Vor dem Machtwechsel sahen viele die kommunistischen Herrscher in Peking als die größte Gefahr für Hongkong. Vor einem Ende der Meinungsfreiheit wurde gewarnt. Peking würde die Zeitungen zensieren, die Kirchen kontrollieren und unliebsame Kritiker einsperren lassen. Das alles ist nicht eingetreten. Selbst Peking-Kritiker geben zu, dass sich Chinas Regierung weitgehend an die vereinbarte Formel "Ein Land, zwei Systeme" gehalten hat.
Hongkongs Zeitungen kritisieren Pekings KP-Führung, wenn auch nicht mehr in der Schärfe wie vor 1997. Anhänger der Falun-Gong-Bewegung, die in China als "Teufelskult" verboten ist, dürfen ihren Übungen nachgehen. "Wir sind immer noch ein bisschen anders als China", sagt die Peking-kritische Abgeordnete Emily Lau und warnt: "Aber dieser Unterschied wird immer geringer."
Es sind die Hongkonger selbst, die im vorauseilenden Gehorsam ihre Rechte aufgeben. Mit Blick auf den chinesischen Markt kündigten Hongkonger Zeitungen kritischen Journalisten. Als Falun-Gong-Anhänger vor der Pekinger Vertretung eine regelmäßige Mahnwache aufstellten, ließ die Stadtverwaltung just an diesem Platz ein Blumenbeet errichten. Es sind viele Einzelfälle, mit denen Hongkongs Freiheitsrechte ausgehöhlt werden.
In der Kritik steht vor allem Regierungschef Tung Chee-hwa. Der ehemalige Reeder, der am 1. Juli seine zweite fünfjährige Amtszeit antritt, hatte bisher wenig Glück. Die Asienkrise brachte kurz nach seinem Antritt die Hongkonger Wirtschafts-Blase zum Platzen. In der Bevölkerung ist er unbeliebt. Viele sehen in ihm eine Puppe Pekings, weil er jede wichtige politische Entscheidung von China absegnen lässt. Als Reaktion auf die Kritik in der Bevölkerung hat Tung für seine zweite Amtszeit ein Ministersystem eingeführt. Statt Beamten werden künftig 14 Minister die verschiedenen Ressorts führen. Doch weder die Minister noch Tung werden von den Bürgern gewählt. Der Regierungschef wurde von einem 800-köpfigen Gremium ernannt, in dem Peking die Kontrolle hat. Kaum einer glaubt, dass sich damit das Ansehen der Regierung bessern wird. "Die Regierung kann sich nur durch Erfolg legitimieren", sagt Politikwissenschaftler Lo.
Viele Hongkonger sitzen seit dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes auf sündhaft teuren Eigentumswohnungen, für die sie jeden Monat Raten zahlen müssen. "Den normalen Leuten sind der Lebensstandard und ihre Beschäftigung am wichtigsten", sagt Lo. Demokratie interessiert nur eine Minderheit. 2007 könnten die Hongkonger theoretisch ihre Regierung demokratisch wählen, so hatten es Peking und London zumindest vereinbart. In der Realität erwartet das niemand. Hongkong bewege sich "eher zurück und wird wie China", sagt die Menschenrechts-Aktivistin Rose Wu.
Vielleicht kommt alles auch nicht so schlimm, wie viele in der Krise befürchten. "Hongkong hatte nach dem Zweiten Weltkrieg viel Glück", sagt der Reiseunternehmer Francis T. Hung. Jahrzehntelang hätten sich die Menschen in der Stadt an ein Wirtschaftswunder gewöhnt. "Wir können nicht alle Probleme dem Regierungschef anlasten", meint der Geschäftsmann. Für ihn sei es normal, dass sich Hongkong durch den Aufstieg Chinas neu positionieren müsse. "Wir werden eine schmerzliche Zeit durchmachen", sagt der Geschäftsmann. Er ist jedoch optimistisch. Am Ende werde sich der "Geist Hongkongs", der unbedingte Wille zum Erfolg durchsetzen. Hung ist sicher: "Hongkong wird das New York Asiens." Die Hochhäuser glitzern heute schon schöner als in Manhattan.
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Dokument erstellt am 26.06.2002 um 21:05:26 Uhr
Erscheinungsdatum 27.06.2002
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