FAZ, 04.11.2002: Chinas Weg zum Recht

Die Justizreform stärkt den Bürger - nicht aber die Menschenrechte

FRANKFURT. In Peking gibt es einen Ort, an dem der Unmut gesammelt wird. Manch ein Bauer aus abgelegenen Provinzen reist bis hierher, um sich über Mißstände in seinem Dorf zu beschweren. Wer nicht bei Verwandten unterkommt, lagert direkt vor dem Amt für schriftliche Petitionen in Peking. Der Zulauf, den das Amt erfährt, ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Veränderung: Die Bewohner des kommunistischen Landes nehmen nicht mehr alles, was von oben kommt, einfach hin. Das Petitionsamt kann allenfalls als Vorstufe rechtlicher Institutionen gelten. Doch tatsächlich prozessieren inzwischen immer mehr Chinesen auch vor ordentlichen Gerichten: gegeneinander wie gegen den Staat - mit Erfolg. Die Rede von Rechten, vom Rechtssystem, gar vom Rechtsstaat ist heute zum Modethema geworden. Während im China des Deng Xiaoping, der seinem Land in den achtziger Jahren konsequente Reformen verordnete, wirtschaftlicher Erfolg, ausländische Investitionen und selbstverantwortliches Unternehmertum im Vordergrund standen, geht es seit Mitte der neunziger Jahre darum, den wirtschaftlichen Erfolg zu festigen, Investitionen zu binden und das Unternehmertum auf eine transparente Grundlage zu stellen. Ein zuverlässiges Rechtssystem mußte her - und unter Jiang Zemin, seit 1993 an der Spitze des Staates, begann diese Arbeit. Zwar ließ sich mit Jiang keine an den Menschenrechten orientierte Rechtsordnung etablieren. Doch hinterläßt Jiang, wenn er beim 16. Parteitag der chinesischen Kommunisten, der am Freitag eröffnet wird, mit der Machtübergabe an seinen designierten Nachfolger Hu Jintao beginnt, Regelwerke, die in China ein beachtliches Maß an Rechtssicherheit geschaffen haben. Das Bekenntnis zu einer "auf Gesetze gestützten" Regierung wurde 1999 in die chinesische Verfassung aufgenommen. Die größten Veränderungen haben sich, befördert durch Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation, im Wirtschaftsrecht vollzogen. Mehr als 700 Verpflichtungen ist die Regierung nachgekommen - ein Kraftakt, den ausländische Anwälte bewundern. Darunter fallen die Erleichterung des Marktzuganges, die Verbesserung des gewerblichen Rechtsschutzes und die Bekämpfung der Korruption. In einer Umfrage der deutschen Außenhandelskammer in Peking rechneten 77,2 Prozent der mittelständischen deutschen Unternehmen mit mehr Rechtssicherheit in China in den nächsten zwei bis fünf Jahren. Ihre Anwälte halten jedoch ein Engagement in China immer noch für ein Wagnis. Chinesische Gerichte, zumal weitab der Städte, sind für ihren Lokalprotektionismus bekannt, der es ausländischen Klägern erschwert, gegen einen einheimischen Gegner zu siegen. Deshalb werden viele Fälle an Schiedsgerichte verwiesen. Doch auch ein Schiedsspruch helfe wenig, wenn er in der Provinz vollstreckt werden müsse, warnt Sabine Stricker-Kellerer, die in den achtziger Jahren als eine der ersten deutschen Anwälte in China arbeitete.

Schlimmer steht es um die Rechtsgebiete, für deren Ausgestaltung der politische Wille fehlt. In erster Linie läßt das Strafrecht an der Reformfähigkeit des Staates zweifeln. Formal hat sich zwar auch hier vieles verändert. So wurden durch die Reform des Strafprozeßrechts 1996 Rechtsgrundsätze wie der schnelle Zugang zu einem Anwalt geregelt, und es wurde eine Wendung aufgenommen, die der Unschuldsvermutung für den Angeklagten sehr nahe kommt. Auch im Strafgesetzbuch, das ein Jahr später geändert wurde, finden sich die Gleichheit vor dem Gesetz und der Grundsatz, es dürfe keine Strafe verhängt werden, wenn der Tatbestand nicht gesetzlich geregelt ist. Rechtswissenschaftler haben jedoch ironisch gefragt, ob das neue Strafrecht eine solche Lücke überhaupt lasse. So konnten im Jahr 1979 28 Delikte mit der Todesstrafe geahndet werden; heute sind es 68. Oft handelt es sich dabei um wirtschaftliche Delikte. Zwar erschienen in chinesischen Publikationen Vorschläge, die Anwendung der Todesstrafe zu begrenzen und die Berufung gegen Todesurteile zu erleichtern. Der chinesische Jurist Yang Yang hält dies erst für möglich, wenn die Regierung der Auffassung sei, daß sich "das durchschnittliche Moralniveau erhöht hat". Und er verweist auf die lange Tradition der Todesstrafe in China, an die "man sich gewöhnt hat". Solche Traditionen wollen Staaten nicht länger hinnehmen, die mit China eine Rechtszusammenarbeit eingegangen sind. Berlin fördert etwa mit dem "Deutsch-Chinesischen Rechtsstaatsdialog" Projekte zur Verbesserung der Gesetzgebung. Das Deutsch-Chinesische Institut für Rechtswissenschaft, das Standorte in Göttingen und Nanjing hat, will, so die Professorin Christiane Wendehorst, den chinesischen Austauschstudenten das vermitteln, was sie in China nicht lernen: selbständiges Denken. Auch Peking möchte die juristische Ausbildung verbessern. In Zukunft müssen Aspiranten auf das Richteramt ein Jurastudium vorweisen, Richter ohne Universitätsdiplom sollen nachträglich geprüft werden. Auch ist es heute leichter, Informationen über Rechtsfragen zu erhalten. Im Internet können die Gesetze eingesehen werden, das chinesische Fernsehen zeigt Rechtsberatungssendungen. Bei den Bürgern setzt auch die Rechtszusammenarbeit an, die amerikanische Organisationen betreiben. Diese zielt nach Einschätzung der Politologin Nicole Schulte-Kulkmann stärker als die Arbeit der deutschen Seite auf die Stärkung des Rechtsbewußtseins in der Bevölkerung. Die "Rechtshilfezentren", die seit 1997 mit amerikanischer Unterstützung an Universitäten aufgebaut werden, stehen Menschen offen, die sich keinen Anwalt leisten können - und erfreuen sich regen Zulaufs. Von Menschenrechtlern hört man aber die Klage, daß alle diese Verbesserungen nur für politisch wenig brisante Themen gelten und die Staatsführung, wenn es ihr opportun erscheint, den Bürgern willkürlich Rechte entzieht. In der Schlange vor dem Eingang zum Petitionsamt stand im Januar 2000 auch Zhao Ming, Informatikstudent am Trinity College in Dublin. Nachdem er sein Anliegen vorgebracht hatte, wurde er verhaftet und mit etwa zwanzig Personen eingesperrt. Sie alle hatten sich über die Unterdrückung der Qigong-Gemeinschaft Falun Gong beschwert. Die Mitglieder von Falun Gong werden bespitzelt, interniert, gefoltert und umgebracht. Auch Zhao Ming wurde gefoltert, nachdem man ihn im Mai 2000 zum zweiten Mal verhaftet hatte. Durch Einwirken der irischen Regierung wurde er in diesem Frühjahr in die Freiheit nach Irland entlassen. Von einer Herrschaft des Rechts und einer unabhängigen Justiz ist China noch weit entfernt. Ein Mitarbeiter eines staatlichen Rechtssetzungsorgans hat kürzlich gegenüber einem ausländischen Besucher zugegeben: Ohne politische Reformen wird das unmöglich sein.

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