Süddeutsche Zeitung, 28.11.02: Jagd auf Internet-Dissidenten

Amnesty widmet der neuen Klasse politischer Häftlinge in China erstmals einen Bericht und beschuldigt auch US-Firmen. In China entsteht eine neue Klasse politischer Häftlinge: Andersdenkende, die sich über E-Mail oder Chaträume zu Themen wie Demokratie oder Falun Gong ausgetauscht oder aus dem Netz Informationen heruntergeladen haben. Die Menschenrechts-Organisation Amnesty International widmete den Internet-Dissidenten jetzt erstmals einen detaillierten Bericht. Darin beklagt sie die zunehmende Überwachung des Netzes in China und fordert die Regierung zur Freilassung von mindestens 30 Häftlingen auf, die offiziell wegen „Subversion“ via Internet im Gefängnis sitzen. AI zufolge sind mindestens drei der Häftlinge im Polizeigewahrsam gestorben, zwei seien zuvor gefoltert worden. Chinas Außenministerium wies den Bericht als „unbegründet“ zurück: „China ist ein Rechtsstaat“, sagte Sprecher Kong Quan in Peking. „Jeder Bürger muss sich an die Gesetze halten.“
AI beschuldigte amerikanische Firmen, Peking bei der Kontrolle des Internets unter die Arme zu greifen. „Internet-Benutzer sind die jüngste Gruppe, die sich in Chinas tödlichem Netz von Festnahme, Verhaftung und Folter verfangen haben, und US-Firmen erleichtern diese Repression zunehmend“, erklärte T. Kumar von der Asien-Gruppe von AI. Namentlich nennt der Bericht Firmen wie Sun Cisco, Nortel Networks und Microsoft, die Peking mit der Lieferung von Software und Equipment „bei der Zensur helfen“.

Das Internet hat sich seit seiner Einführung 1995 in China schnell verbreitet. Nach den jüngsten Zahlen des Informationsministeriums gibt es im Land mehr als 20 Millionen ans Netz angeschlossene Computer und 54 Millionen Benutzer. Gemessen an der Bevölkerung von 1,3 Milliarden ist das kein hoher Prozentsatz, in absoluten Zahlen jedoch liegt China damit weltweit an zweiter Stelle hinter den USA – schon in vier Jahren will das Land der größte Internetmarkt der Erde sein. Die Regierung unterstützt die Verbreitung des Netzes, soweit es der Wirtschaft oder der Behördeneffizienz dient, versucht jedoch, die Verbreitung ihr missliebiger Informationen zu Themen wie Falun Gong, Tibet, Taiwan, Menschenrechte oder Demokratie zu unterdrücken.

In den vergangenen Jahren hat Peking mehr als 60 Regeln und Gesetze für die Benutzung des Netzes erlassen. Für den Online-Verrat von Staatsgeheimnissen hat Chinas Oberstes Gericht im Januar 2001 sogar die Todesstrafe angedroht. Portale sind zur Zensur ihrer Nachrichtenseiten und Chaträume verpflichtet, Internet-Cafés zur Speicherung und Weiterleitung aller Benutzerdaten an die Behörden. Laut AI sind landesweit mehr als 30 000 Polizisten zur Kontrolle des Netzes abgestellt. 500 000 ausländische Webseiten sind ganz blockiert – inklusive der von Amnesty – , seit September diesen Jahres jedoch setzen die Behörden feinere Filter ein, die generell den Zugriff auf Seiten verweigern, die bestimmte Schlüsselwörter enthalten.

AI beschreibt Fälle wie den des Polizisten Li Dawei: Li hatte sich Artikel von ausländischen Webseiten der chinesischen Demokratie-Bewegung heruntergeladen. Wegen „Subversion“ wurde er 2001 zu elf Jahren Haft verurteilt. „Jeder, der allein wegen der friedlichen Veröffentlichung seiner Meinung im Internet oder für den Zugriff auf bestimmte Webseiten festgenommen wurde, ist ein Gewissens-Gefangener und sollte sofort und bedingungslos freigelassen werden“, fordert AI.

Kai Strittmatter


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