SpiegelOnline, 02.09.02: Lauer Wind

In den armen Zentralprovinzen am Gelben Fluss wächst der Hass auf die korrupte KP. Die will sich auf dem 16. Parteitag erneuern - aber Parteichef Jiang Zemin klebt an seinem Sessel.
Hoch über den Maisfeldern liegt auf einem Lössberg der alte "Tempel der südlichen reichen Ernte". In der Mitte der Anlage graben einige Männer ein tiefes Loch: das Fundament für eine neue Pagode. "Neun Stockwerke, 30 Meter hoch wird sie", berichten sie stolz.
Es ist ein Verzweiflungsakt, den die Menschen am Gelben Fluss in der Zentralprovinz Shaanxi vollbringen. Mit dem Bau des Turms wollen sie höhere Mächte gnädig stimmen. Die Anwohner von 18 Dörfern kratzten dafür ihre Ersparnisse zusammen. Denn, so sagt Gao Yan, einer der Arbeiter am Tempel: "Es geht uns nicht gut, die Dürre ist einfach zu lang."

Die Götter und nicht die Genossen sind für die Bauern letzte Hoffnung. Wenige Wochen vor dem 16. Parteitag in Peking, der nach Querelen in der Machtelite auf Anfang November verschoben wurde und wie ein "lauer Frühlingswind" ("Volkszeitung") das Land beglücken soll, könnte die Stimmung der Bürger in Chinas Kernland kaum schlechter sein.

Schuld daran sind nicht nur Naturkatastrophen wie die Dürre in Shaanxi oder die jüngsten Überschwemmungen am Jangtse: Trotz aller Beschwörungen über die "unverbrüchliche Einheit" zwischen Partei und Volksmassen, mit denen die KP ihren Kongress derzeit propagandistisch einläutet, hat sich eine tiefe Kluft aufgetan zwischen denen da unten und denen da oben.

"Mit uns hat der Parteitag nichts zu tun. Wir sind einfache Leute. Wir sorgen uns nur darum, ob wir Kleidung, Nahrung und das Schulgeld bezahlen können", sagt ein Gastwirt, der ein kleines Restaurant an den Wasserfällen des Gelben Flusses stromabwärts bei der Stadt Hukou betreibt. "Ob ein Jiang Zemin oder ein Hu Jintao Parteichef wird: Für uns ändert sich nichts", sagt auch ein Arbeiter in der früheren Revolutionsmetropole Yan'an.

Nach Ansicht der Bauern tragen viele KP-Genossen eine gehörige Portion Mitschuld an ihrer Misere. Hilfsgelder aus Peking, so munkeln sie, landen nicht bei den Ärmsten, sondern in den Taschen lokaler Funktionäre. Und anstatt Bewässerungskanäle, Kliniken und Schulen zu bauen, kaufen sich Kader protzige Dienstwagen und errichten luxuriöse Amtsgebäude, wo sie Freunde und Verwandte mit einträglichen Staatsjobs versorgen.

Zudem pressen die "kleinen Diktatoren" der Landbevölkerung zu viele Steuern und Gebühren ab. "Wir müssen für alles Mögliche bezahlen", klagt Bäuerin Wang Mei, 40, die mit ihrem Mann einen kleinen Hof auf einer braunen Terrasse in windiger Höhe am Gelben Fluss bewirtschaftet. "Mal sind es 30 Yuan, mal 50." Wang: "Wir leben von der Hand in den Mund."

Die zerklüfteten Lösshänge am Gelben Fluss - der als "Mutter der Nation" gepriesene Strom, an dessen Ufer der legendäre Gelbe Kaiser herrschte - gehören zu den rückständigsten Regionen Chinas. Eines der "größten Hindernisse für die Entwicklung" seien die Funktionäre vor Ort, sagt der Schriftsteller und Unternehmer Zhang Xianliang, 65, aus dem Gebiet Ningxia, der mit seinen Romanen über Chinas Arbeitslager bekannt geworden ist. Die Bonzen seien in der Regel konservativ und schlecht qualifiziert, "sie kennen nur die Macht, aber nicht das Recht".

Verwunderlich ist dies nicht: Die Vorgesetzten in Peking sind schlechte Vorbilder. Trotz ihres Versprechens, auf dem 16. Parteitag ihre Posten an Jüngere abzugeben und damit erstmals in der Geschichte der Volksrepublik einen reibungslosen Wechsel zu bewerkstelligen, klammert sich die alte Garde an Amt und Würden.

So will Parteichef Jiang Zemin - obwohl schon 76 Jahre alt - zumindest für eine Übergangszeit weiter die KP, die mächtige Militärkommission und das für die Taiwan-Politik verantwortliche Gremium führen, heißt es in Peking. Allenfalls das Amt des Staatspräsidenten mag er KP-Kronprinz Hu Jintao, 59, überlassen.

Jiang fürchtet offenbar, dass sich die Genossen ohne ihn schnell wieder von seiner Theorie der "Drei Repräsentationen" verabschieden, die er im November sogar ins Parteistatut schreiben lassen will. Um den Genossen eine breitere Machtbasis zu verschaffen, soll sie in Zukunft die "fortschrittlichen Produktivkräfte, die progressive Kultur und die fundamentalen Interessen des Volkes" vertreten. Im Klartext heißt das: Die KP will in dem von ihr praktizierten Kapitalismus nicht mehr nur die Partei der Arbeiter, Bauern und Soldaten, sondern auch der privaten Unternehmer und der wachsenden Mittelklasse sein.

Schon bläst Jiang der Wind heftig ins Gesicht; Linke wie Liberale fühlen sich verraten. Heftige Kritik äußerte jetzt Bao Tong, 66, früher Sekretär des vor dem Tiananmen-Massaker 1989 gestürzten Parteichefs Zhao Ziyang: Jiangs Theorie sei nicht der Beginn einer neuen Epoche, sondern sie gleiche einer "sterbenden Krähe auf einem trockenen Ast im Sonnenuntergang". Denn längst sei die KP "eine Partei der Reichen und Mächtigen geworden", klagte er in einem Essay, den er trotz strenger Überwachung an Gleichgesinnte verschicken konnte. Das Regime, so Bao, unterdrücke systematisch die Interessen der Bevölkerungsmehrheit: die von Arbeitern, Erwerbslosen und Bauern.

Beispiel Zizhou, eine Kleinstadt in der Nähe des Gelben Flusses: In dem Provinznest scheint die Zeit in den siebziger Jahren stehen geblieben zu sein. Die Bewohner leben in grauen Mietskasernen, das staatliche Kaufhaus ist längst geschlossen. Der Kulturpalast, einst Hort revolutionärer Opern, verstaubt. Das ungewöhnlich große neue Polizeipräsidium des Ortes deutet darauf hin, dass in Zizhou etwas nicht in Ordnung ist. Und tatsächlich: Vor wenigen Jahren haben sich die Bauern gegen die Partei aufgelehnt.

Zu unverschämt waren die Kader bei der Suche nach neuen Einnahmequellen geworden und hatten immer neue Steuern und Abgaben erfunden: für das Grasen von Ziegen, das Füttern von Eseln, für das Anpflanzen von Apfelbäumen, für die Stadtplanung, Milizen, Armee, Geburtenkontrolle und Straßenpflege.

Das Unerhörte geschah. Mit Hilfe von Rechtsanwälten, Lehrern und Journalisten erzwangen die Bauern in der nahe gelegenen Bezirkshauptstadt Yulin ein Gerichtsurteil, das die Abgabenlast halbierte. Doch für die friedliche Revolte, der sich zeitweise Tausende Bauern anschlossen, musste einer bezahlen: Der Lehrer Ma Wenlin, der die Bauern beraten hatte, landete wegen "Störung der sozialen Ordnung" für fünf Jahre hinter Gittern.

Wut und Enttäuschung über solche Willkür haben sich inzwischen bis in die von Zizhou 140 Kilometer entfernte Wiege der Revolution von Yan'an gefressen, wo Mao und seine Genossen 1935 nach dem Langen Marsch in Höhlenwohnungen ihr Quartier aufgeschlagen hatten. "Wir sind so arm, weil wir das falsche politische System haben", klagt Zhu Wei, der in einem der zu Museen umgestalteten "Revolutionsstützpunkte" Andenken verkauft. Gefordert sei radikaler Wandel: "Die KP ist zu korrupt und deshalb nicht zur Reform fähig. Wir brauchen ein Mehrparteiensystem."

Inzwischen hat auch die Parteispitze erkannt, dass sie sogar in ihrem Kernland den Rückhalt verliert. Denn wenn erst die Regeln der Welthandelsorganisation greifen und China billige Agrarprodukte aus den USA und aus Europa importieren muss, dürfte das Einkommen der 800 Millionen Bauern noch weiter hinter das der Boomregionen an der Küste zurückfallen.

Der Schanghaier Wissenschaftler Cao Jingqing, der lange Zeit am Gelben Fluss die Stimmung erkundete, sieht schlimme Folgen voraus, falls die Partei die Bauern weiterhin als Bürger zweiter Klasse behandelt. Die Landleute, warnt er, seien wie der Strom: "Oft sehr gemächlich, aber fähig zu enormer Gewalt."

Rubrik: Veranstaltungen