Tages-Anzeiger: Auf jeden großen Rausch folgt ein schlimmer Kater China wächst zwar rasant. Doch die Absturzrisiken sind riesig, weil die Politiker noch immer die totale Kontrolle über die Wirtschaft haben wollen.

«Es ist ziemlich klar», sagte Kenneth Courtis letzten November auf dem Hongkonger Ableger des Davoser Weltwirtschaftsforums: «Der dominante Faktor dieses Jahrhunderts wird der Aufstieg Chinas sein.» Der Vizepräsident der Investmentbank Goldman Sachs in Asien ist nicht allein in seinem Enthusiasmus. Der Westen ist im China-Rausch. Es wäre an der Zeit, sich an eine einfache Wahrheit zu erinnern: Auf jeden Rausch folgt ein Kater.
Tatsache ist, dass China derzeit glänzt. Das liegt indes vor allem an der düsteren Lage im Rest der Erde, schliesslich sind die Wachstumsraten nirgends ebenso hoch. Nicht ohne Grund: Die Chinesen sind ein cleveres, lernbegieriges, hart arbeitendes und geschäftstüchtiges Volk, das Unglaubliches zu leisten im Stande ist.

Wachstum auf Pump

Gleichzeitig jedoch blendet man im Westen einige grundlegende Wahrheiten aus. Zum Beispiel: Dass die Wachstumsraten der letzten zwei Jahrzehnte auch deshalb so hoch sind, weil die Kommunistische Partei das Land kurz zuvor in Ruinen gelegt hatte. Dass das Wachstum zu einem grossen Teil auf staatlichen Investitionen beruht und auf Pump finanziert ist: Das Budgetdefizit erreicht in diesem Jahr die Rekordhöhe von umgerechnet 36 Milliarden Euro. Und - vielleicht am wichtigsten - dass es der Partei unmöglich scheint, ganz zur Seite zu treten: Die KP möchte auch heute überall das letzte Wort haben. Sie predigt ihrem Land Wandel und lehnt ihn ab für sich selbst.

Es ist ein verbreiteter Irrtum im Westen, Chinas Wirtschaft und deren Aussichten rein ökonomisch messen zu wollen. Abgesehen davon, dass Produktionsziffern und Statistiken von Fabrikdirektoren und Funktionären aller Stufen geschönt und verbogen werden wie eh und je, regiert in China noch immer die Politik, und zwar auch über die Wirtschaft. Es ist keinesfalls der Wandel von der Plan- zur Marktwirtschaft im Gange, sondern der zur «Clan-Wirtschaft».

Im neuen China wird Macht gehandelt gegen wirtschaftlichen Vorteil. Das ganze System hat einen «doppelten Boden», wie der deutsche China-Experte Sebastian Heilmann schreibt:

Hinter dem erfolgreichen, jungen Privatsektor stehen das Land aussaugende, reformresistente Staatsbetriebe, an die auf politische Weisung hin 70 Prozent aller Kredite verfüttert werden.
Hinter einer der höchsten Sparquoten der Erde steht das nach westlichen Kriterien längst insolvente Bankenwesen.
Hinter dynamischen, gut ausgebildeten Jungfunktionären und Managern steht ein im leninistischen Korsett gefangener Apparat, der noch immer mit Zensur, Geheimniskrämerei und Repression regiert.
Hinter glitzernden Bürotürmen steht vor allem die Korruption.
Hinter der neuen, wohlhabenden Mittelschicht von vielleicht 150 Millionen steht ein Vielfaches an bitterarmer Landbevölkerung, die in den letzten Jahren gar Einkommensverluste hinnehmen musste.
Hinter erstaunlichen Fortschritten in Telekommunikation und Verkehrswesen steht verheerende Umweltzerstörung.

Nur vordergründig spektakulär

Die Entwicklung, die die Partei China verordnet hat, sieht vordergründig spektakulär aus - aber sie ist im Moment nicht nachhaltig, weder politisch noch sozial, noch ökologisch. Den Erfolgen der letzten Jahre stehen grosse Risiken für die Zukunft gegenüber. Und mit jedem Tag, der vergeht, ohne dass die KP endlich institutionelle Reformen einleitet, wachsen sie.

Ja, viele Chinesen sind so frei, wohlhabend und gebildet wie nie zuvor - aber gerade das sollte ein Grund zur Sorge für Peking sein: Diese Menschen sind nicht mehr so leicht an der Leine zu führen, sie sind fordernder als je zuvor. Parallel zum Boom liess die Regierung deshalb im letzten Jahrzehnt ehemalige Soldaten zur «bewaffneten Volkspolizei» umschulen, die mittlerweile eine Million Mann stark ist: Sie sollen das eigene Volk in Schach halten. Mit ihrer Obsession für vordergründige Stabilität (sprich: ihre Macht), der sie jede wirkliche Reform opfert, erreicht die KP das Gegenteil: «Eine dauerhafte innere Stabilisierung Chinas zeichnet sich nicht ab», meint der Sinologe und Politikwissenschaftler Heilmann. China ist fragil.

Die Parteiorganisation im Land zerfällt, an der Basis erinnert die KP für Heilmann oft an eine «mafiose Gruppierung». Arrogante und verhasste lokale Parteikader regieren ihre Sprengel wie Fürsten. Die Folgen: Realitätsblindheit, keine Duldung unabhängiger Überwachung und Kritik, keine öffentlichen Debatten und kein bürgerliches Engagement - Gift für ein Land, das in die Zukunft marschieren möchte.

Dabei bräuchte die Wirtschaft Chinas grösstmögliche Unterstützung für private Unternehmen, die Hoffnung auf Wachstum, Innovation und neue Jobs versprechen. Allein in den Städten gibt es wahrscheinlich 30 Millionen Arbeitslose; auf dem Land sind weitere 200 Millionen ohne Job. Im Moment aber hat der Privatsektor kaum Zugang zu Krediten. Diese fliessen in einem gigantischen Geldvernichtungs-Kreislauf den kranken Staatsfirmen zu.

Grassierende Korruption

China bräuchte auch einen echten Kampf gegen den Nepotismus und die wie ein Krebsgeschwür wuchernde Korruption. Die Regierung selbst hat gerade die Kapitalflucht aus dem Land von 1997 bis 1999 auf 53 Milliarden Dollar beziffert, unabhängige Schätzungen sprechen mindestens vom Doppelten. Und Kapitalflucht in China heisst nicht etwa: selbst verdientes Geld an der Steuer vorbeischleusen - es handelt sich um, wie die «Beijing Review» Ende Oktober schrieb, «durch den Missbrauch von Macht erlangte gesetzeswidrige Gelder». Raub am eigenen Volk also.

Nötig wären auch Rechtssicherheit und Transparenz, in letzter Konsequenz eine unabhängige Justiz und eine unabhängige Presse. Und das hiesse: Gewaltenteilung. Ein Ende der Einparteienherrschaft, ein Ende des Systems. Doch es gibt auch unter der neuen Führung keine Anzeichen, dass die Partei dazu bereit wäre.
Gleichzeitig beraubt die KP China seiner Ressourcen. Noch immer leistet sich der Staat unglaubliche Verschwendung: In Form von absurden und endlosen Polit-Kampagnen. In Form von Denkmälern für die Partei: den Drei-Schluchten-Damm, den Transrapid als Flughafen-S-Bahn, die bemannte Weltraumkapsel. Das alles kann ein Land machen, wenn es in Geld schwimmt. Was aber, wenn es gleichzeitig für den dringend nötigen Aufbau eines sozialen Netzes, für Bildung und Gesundheit des Volkes nicht genug hat? Dann kann sich das rächen.

China hat viel erreicht in den letzten zwei Jahrzehnten. Schon bald aber wird das Land an einen Punkt gelangen, wo zur Fortführung des Weges Schnitte notwendig wären, die die KP scheut wie der Teufel das Weihwasser, weil sie ihre alten Herrschafts- und neuen Profitinteressen gefährdet. Der Konfliktstoff im Land nimmt zu, gleichzeitig fehlen der Partei die Mechanismen, damit fertig zu werden. Das System sieht keine politischen Auseinandersetzungen vor, kennt keine Ventile, wo Unzufriedene produktiv Dampf ablassen können. Es kennt als Antwort auf Dissens nur Repression. Deshalb wird es zu Zusammenstössen kommen. Wenn das System an seine Grenzen stösst. Wenn die Ersten zur Bank stürmen, um ihre Einlagen in Sicherheit zu bringen. Wenn ein weiterer Immobilienskandal Bewohner ohne Heim und Erspartes zurücklässt. Wenn wieder Provinzkader ein Dorf plündern.

Die Rezession wird kommen

Unvorstellbar? Aus genau diesen Gründen sind schon in den letzten Jahren Zehntausende Male Bürger auf die Strassen gegangen, haben meist friedlich demonstriert, manchmal ein Regierungsbüro in Brand gesteckt. Noch erstickt der staatliche Repressionsapparat solche Proteste. Was aber, wenn die erste grosse Rezession das Land heimsucht, das nunmehr zwei Jahrzehnte nichts als Wirtschaftswachstum kennt? Wird es dann bei kleinen, lokal begrenzten Unruhen bleiben?

Irgendwann werden die Gesetze der Ökonomie auch China einholen. Das Land steckt in einer der grössten Umwälzungen seiner Geschichte, und es wird sich weiter wandeln. Aber der Weg wird noch durch tiefe Täler führen. Vielleicht wird China tatsächlich die neue Wirtschaftsmacht. Aber Rezession und Erschütterungen werden kommen. Es ist nur eine Frage der Zeit und eine des Ausmasses. Müssen es grosse Explosionen sein, solche, die das Land an den Rand des Kollapses bringen? Nein, müssen es nicht. Aber sie könnten es sein. Es lohnt sich also, aufzuwachen.