Der Tagesspiegel Online, 22.04.2003: SARS - DIE LUNGENSEUCHE BREITET SICH AUS

Es ist schlimmer als befürchtet. Die Lungenkrankheit Sars ist auf dem Vormarsch – besonders in China. Dort haben die Behörden lange die wirklichen Opferzahlen vertuscht. Jetzt ist klar, dass sich weit mehr Menschen infiziert haben. Aber nicht nur in Asien wächst die Angst. In vielen Ländern macht sich Nervosität breit. Ohne Grenzen

Chinas Führung hat Konsequenzen gezogen. Nach der internationalen Kritik an dem Umgang mit der tödlichen Lungenkrankheit Sars wurden Gesundheitsminister Zhang Wenkang und Pekings Bürgermeister Meng Xuenong aus ihren Ämtern entlassen. Zugleich gaben die Behörden zu, dass die Zahl der Infizierten in Peking zehn Mal so hoch ist, wie bisher eingestanden. Statt den bisher eingestandenen 37 Fällen seien in Peking 346 Menschen mit Sars infiziert und 18 gestorben, erklärte Vizegesundheitsminister Gao Qiang Sonntag. Hinzu kämen 402 Verdachtsfälle, von denen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vermutlich die Hälfte an Sars erkrankt seien.

Die Staatsmedien kritisierten Zhang und Meng für den Umgang mit Sars scharf. Die beiden Regierungskader hätten „schwere Fehler begangen“, berichtete die „Chinesische Wirtschaftszeit“. Staats- und Parteichef Hu Jintao warnte im Fernsehen, dass die Vertuschung von Sars-Fällen durch lokale Kader „streng bestraft“ würde.

China war in den vergangenen Wochen massiv für seinen Umgang mit Sars kritisiert worden, weil es falsche Angaben über Infektionszahlen machte und Experten der WHO den Zugang zu Krankenhäusern und Labors verweigerte. Während in Hongkong und anderen asiatischen Ländern Experten Maßnahmen zur Eindämmung der tödlichen Krankheit unternahmen, spielte Gesundheitsminister Zhang die Gefahr durch den Erreger herunter. Sars sei effektiv unter Kontrolle, behauptete Zhang, während seine Untergebenen versuchten, die Kranken zu verstecken. Als Experten der WHO vergangene Woche Militärkrankenhäuser in Peking besuchten, seien Sars-Infizierte aus ihren Betten geholt mit Ambulanzen durch die Stadt gefahren worden, berichten Pekinger Ärzte.

Ein Expertenteam der WHO, zu denen auch der deutsche Virologe Wolfgang Preiser gehört, begann am Montag mit einer Inspektion in Shanghai, wo es offiziell bisher zwei Fälle geben soll. Beobachter rechnen damit, dass auch dort die wahren Zahlen um ein Vielfaches höher sind.

„Ich bin verärgert“

Die Nachricht mit der drastischen Zunahme der Erkrankungen sorgte in Peking für Besorgnis und Verärgerung. Viele Menschen gingen am Montag nur noch mit Mundschutz auf die Straßen. Einige ausländische Firmen bereiteten die vorübergehende Evakuierung ihrer Übersee-Mitarbeiter vor. „Wir alle wussten, dass die offiziellen Zahlen nicht stimmen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so hoch sind“, erklärt ein deutscher Geschäftsmann. „Ich bin verärgert über die Regierung. Sie haben sich nicht einmal für die Lügen entschuldigt“, sagt ein Pekinger Student.

Insgesamt sind in China mehr als 1900 Menschen an dem Schweren Akuten Atemwegssyndrom (Sars) erkrankt – dies entspricht rund der Hälfte der weltweiten Fälle. Mindestens 86 Menschen sind gestorben.

In Peking und anderen großen Städten begannen Arbeiter damit, öffentliche Plätze, Bahnhöfe und zum Teil auch Wohnhäuser zu desinfizieren. An mehreren Universitäten wurde der Unterricht gestrichen und den Studenten das Verlassen des Campus verboten. Unter Hinweis auf die „sehr ernste Lage“ schlossen die Provinzen Innere Mongolei und Shanxi vorübergehend die Schulen. In Peking bereiteten die Behörden unterdessen sechs Krankenhäuser auf Hunderte neue Fälle vor. Allein im Ditan-Krankenhaus wurden dazu 350 Betten freigemacht und die Patienten in andere Kliniken verlegt.

Ferienwoche gestrichen

Wegen Sars strich die Regierung auch die landesweiten Feiertage zum 1. Mai. Während der „Goldenen Woche“ reisen normalerweise Hundert Millionen Menschen zu Verwandtenbesuchen und zum Urlaub durch das Land. Der Ausfall der Ferien ist ein zusätzlicher Rückschlag für Chinas Tourismusindustrie. Seit dem Ausbruch von Sars haben ausländische Besuchergruppen und Geschäftsleute ihre Reisen in China storniert. Sollte die Verunsicherung anhalten, rechnen Beobachter mit einer Abschwächung der gesamten Wirtschaftsentwicklung.

Auch in den USA nimmt die Nervosität zu. Wer dieser Tage hustet oder niest in San Franciscos Chinatown macht sich schnell verdächtig. Das musste Rose Pak, die Vorsitzende der chinesischen Handelskammer, erleben, als sie in einem Blumenladen von einem leichten Niesanfall geschüttelt wurde. „Man konnte richtig die Panik in den Augen der Leute sehen.“ Denn auch in den USA verbreitet die Lungenseuche Angst und Schrecken – vornehmlich in Regionen mit hohem asiatischem Bevölkerungsanteil wie Kalifornien, Hawaii und New York. Obwohl bislang noch kein einziger Todesfall in den Vereinigten Staaten gemeldet wurde, und sich die Zahl der Erkrankten in Grenzen hält.

Schuld sind Gerüchte. So wurde angeblich in Los Angeles ein asiatischer Supermarkt geschlossen. In San Francisco sei der Besitzer eines China-Restaurants schwer erkrankt, in Honolulu ein Mitarbeiter in einer Fleischerei. Alles Falschmeldungen, die meist über E-Mail und oft auch noch aus Asien kommend, Verbreitung finden.

Und diese Gerüchte haben weit reichende Folgen. Nicht nur ändern Chinesen ihre Einkaufsgewohnheiten und meiden die quirligen Gemüse- und Fischmärkte in Chinatown. Statt Dim-Sum-Restaurants frequentieren sie nun lieber amerikanische Lokale oder bleiben gleich zu Hause. Allein Geschäfte, die chinesische Kräuter und homöopathische Mittel anbieten, können sich über mangelnde Kundschaft nicht beklagen. Die Galgant-Wurzel, die angeblich Erkältungskrankheiten kuriert, ist ausverkauft.

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