Financial Times Deutschland, 25.04.2003: SARS: ´Am besten schließt man sich ein´

Mit wildem Griff reißen die Menschen in Peking die letzten Pakete mit Fertignudelgerichten aus dem Supermarktregal. Die Gemüseauslagen sind leergeräumt, Desinfektionsmittel ausverkauft. In Chinas Hauptstadt ist die SARS-Panik ausgebrochen.

"Das beste ist, sich zu Hause einzuschließen", sagt eine Einkäuferin. Seit die Regierung ihre Vertuschungstaktik beendet hat, ist die Zahl der Pekinger SARS-Kranken in fünf Tagen von drei Dutzend auf über 700 gestiegen - plus Hunderte Verdachtsfälle.

"Die Zahl wird weiter steigen", sagt Volker Klinnert, Regionalarzt der deutschen Botschaft in Peking. "Keiner weiß, wie weit sich das Virus bereits in der Bevölkerung verbreitet hat." In vielen Fällen sind die Infektionswege auf Grund der zuvor mangelhaften Erfassung nicht mehr zurückzuverfolgen.

Vor Apotheken für traditionelle chinesische Medizin (TCM) drängeln sich Käufer in langen Schlangen, um körperstärkende Kräutersäfte zu kaufen. Allein der TCM-Anbieter Tongrentang setzte in Peking in den vergangenen Tagen Hunderttausende solcher Elixiere ab. "Ich weiß nicht, ob es hilft, aber ich hoffe es", sagt ein junger Käufer.

Arbeiter in Ganzkörperschutzanzügen versprühen mit kanonenähnlichen Sprühapparaten Desinfektionsmittel in U-Bahnhöfen, Häuserblocks und Einkaufszentren. Die meisten Restaurants sind leer. Viele Unternehmen lassen ihre Mitarbeiter nur noch von zu Hause arbeiten. Die sonst üblichen Autostaus der Rushhour wichen am Donnerstag einem dürftigen Rinnsal. Wer Bus fährt, trägt Mundschutz.

Die Regierung hat angekündigt, Kranke, deren Familien und betroffene Areale wie Wohnblocks und Hospitale konsequent und notfalls mit Gewalt zu isolieren. Am Donnerstag riegelten Sicherheitskräfte das Volkskrankenhaus im Westen der Stadt ab, weil sich dort Dutzende Mediziner und Krankenschwestern mit SARS infiziert haben - obwohl das Hospital nicht zu den sechs designierten Behandlungskliniken für SARS gehört. Die vorhandenen Kapazitäten zur Virusbehandlung reichen nicht mehr, weitere Kliniken sollen nun freigeräumt werden.

Erst Panik-Anzeichen in Shanghai

Während die Panik in Peking dramatische Ausmaße annimmt, nehmen Alltag und Geschäftsleben in anderen Teilen Chinas noch ihren gewohnten Lauf. So geben Vertreter ausländischer Unternehmen in Shanghai an, SARS habe ihre Produktion und Auftragslage bisher nicht beeinträchtigt. "Jeder geht wie gewohnt seinen Geschäften nach", sagt Jeffrey Bernstein vom Logistikunternehmen Emerge Logistics in der Shanghaier Freihandelszone Waigaoqiao. Erste Anzeichen von Panik waren am Donnerstag jedoch auch in Shanghai zu beobachten: Vor den Toren des Hauptwerkes des Automobilherstellers Volkswagen im Vorort Anting müssen Besucher Fieber messen lassen und Formulare mit Gesundheitsangaben ausfüllen.

Schon jetzt hat sich SARS auf mehrere chinesische Provinzen ausgebreitet. Es wird befürchtet, dass sich das Virus von Peking aus noch stärker im Land verbreiten wird. In Peking arbeiten Millionen von auswärtigen Chinesen. Viele haben sich bereits aus Panik zurück in ihre Heimatprovinzen aufgemacht und ihre Verkaufsstände für Teigtaschen oder den Studienplatz verwaist zurückgelassen. Die Bahnhöfe der Hauptstadt quellen über mit Reisenden. Auch am Flughafen schieben sich drängelnde Reisende die Gepäckwagen gegenseitig in die Hacken.

Autobahn gesperrt

Die nur eine Autostunde von der Hauptstadt entfernte Stadt Tianjin sperrte ihre Autobahn und ließ keine Autos mit Pekinger Kennzeichen mehr passieren. In Peking kursieren Gerüchte, die Regierung plane die Stadt durch Einsatz der Armee komplett von der Außenwelt abzuschirmen und den Flughafen zu schließen. "Wir wurden bisher nicht informiert", heißt es bei Lufthansa.

Tausende Ausländer, vor allem Familien mit Kindern, haben die Stadt bereits verlassen. Zu Hause werden einige von ihnen mit Skepsis empfangen. "Meine deutschen Bekannten haben angekündigt, dass sie mich erst mal nicht sehen wollen", sagt eine junge Frau vor ihrer Flucht.

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