Spiegel Online, 27.04.2003: Geisterstadt im Schatten der Seuche

SARS in Peking

In Angst vor der Lungenkrankheit SARS wirkt Peking wie erstarrt. Nach Schulen und Universitäten mussten jetzt auch Theater, Kinos, Internet- und Karaokebars schließen. Dichtes Treiben herrscht nur noch an Bahnhöfen: Wanderarbeiter verlassen von dort das Zentrum der Seuche in Richtung aller Landesteile.

Peking - Nachdem die Stadtregierung in der vorigen Woche bereits Grund- und Mittelschulen sowie einige Universitäten geschlossen hat, mussten nun auch zahlreiche Freizeitstätten und die öffentlichen Bibliotheken dicht machen. Das teilte am Wochenende die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua mit. Ziel sei es, "die mögliche Ausbreitung des SARS-Virus zu verhindern". Auch alle öffentlichen Bibliotheken stellten ihre Dienste ein.
Etliche Straßen der sonst quirligen 14-Millionen-Metropole wirken wie ausgestorben. Vor den Bahnhöfen drängen sich dagegen Tausende. Dabei handelt es sich vor allem um Wanderarbeiter, die in ihre Heimat zurückfahren. Sie widersetzen sich damit dem Appell der Führung, in der Stadt zu bleiben, um das Virus nicht in der Provinz zu verbreiten. Anzeichen von Panik waren nicht zu erkennen. Eine große Zahl von Polizisten soll offenbar jede Unruhe im Keim ersticken.

Pekinger bleiben lieber zu Hause

Viele der Gelegenheitsarbeiter haben in den letzten Tagen ihren Job vorübergehend verloren, denn Hotels, Restaurants und andere Dienstleistungsbetriebe haben derzeit keine Kunden: Die Pekinger ziehen es vor, zu Hause zu bleiben. Auch Touristen kommen kaum noch in die Stadt.

Im Pekinger Flughafen sind lange Tische aufgebaut, an denen Passagiere "Gesundheitsformulare" ausfüllen. Die Behörden fragen nach Fieber, Atemnot, Kurzatmigkeit und Husten. Allerdings kontrolliert niemand die Angaben. Passagiere berichten, niemand habe bei ihnen - wie offiziell angekündigt - die Körpertemperatur gemessen.

Insgesamt sind nach letzten Angaben in der Volksrepublik 2914 Menschen an SARS erkrankt. Die Seuche breitet sich auch weiterhin mit hoher Geschwindigkeit aus: Allein über das Wochenende kamen in China mehr als 300 offiziell Erkrankte und 16 Tote hinzu, die meisten in der chinesischen Hauptstadt, dem Zentrum der Krankheit mit 1114 SARS-Patienten.

Regierung will Vertrauen zurückgewinnen

Chinas Führung demonstriert unterdessen Entschlossenheit im Kampf gegen das Virus. Sie ernannte Vizepremier Wu Yi zur Gesundheitsministerin. Wu Yi ist die einzige Frau im Politbüro und gilt als besonders durchsetzungskräftig. Die Regierung versucht damit, das Vertrauen wieder herzustellen, das durch die Verschleierungstaktik in den vergangenen Monaten verloren gegangen ist. Sie gab in der vergangenen Woche zudem 243 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen SARS frei.

Der neue Premier Wen Jiabao besuchte am Wochenende die Pekinger Universität. "Wir sollten niemanden beschuldigen und die Herausforderung annehmen", betonte er. "Die chinesische Nation werde durch die SARS-Katastrophe stärker denn je werden", versicherte der Regierungschef.

Während etliche Zeitungen ganz im Sinne Wens in bewährter Propagandamanier die positiven Aspekte des Kampfes gegen den Virus in den Vordergrund stellen, nehmen andere Journalisten kein Blatt vor den Mund. Wegen "Pflichtversäumnis" von nicht genügend beaufsichtigten Funktionären habe sich SARS weiter verbreiten könnten, schimpfte zum Beispiel die populäre "Chinesische Jugendzeitung". Die Folgen: Eine "nie vorher erlebte Katastrophe für die ganze Nation" und "unschätzbare Verluste" für die Wirtschaft. Das "Phänomen des Versteckens und Hinauszögerns von Lageberichten" sei nicht neu. "Am Ende werden die Führer befördert, und den Schaden haben die Menschen."

Auch die "China Economic Times" verlangte für die Zukunft eine offenere Informationspolitik: "Die Wirtschaft ist globalisiert, die Krankheit ist globalisiert und auch Informationen. Es ist eine veraltete Idee, zu versuchen, Informationen über große Ereignisse zurückzuhalten. Solch eine Praxis kann heutzutage nicht mehr funktionieren."

Rubrik: Veranstaltungen