Tages-Anzeiger, 2003-07-11: Peking reagiert nervös auf Massenproteste in Hongkong

Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Tagen haben Zehntausende gegen den chinesischen Statthalter in Hongkong und für freie Wahlen demonstriert.

Gekleidet in der Trauerfarbe Weiss, mit Kerzen und Leuchtröhrchen in den Händen, forderten rund 50 000 Menschen den Rücktritt von Hongkongs Regierungschef Tung Chee-Hwa und ein Wahlrecht für alle Bürger der 7-Millionen-Metropole.

Allerdings tauchten in den Zeitungen des Festlands erstmals kritische Kommentare über den nach dem Ende der Kolonialzeit 1997 von Peking eingesetzten Politiker auf. Tungs Verwaltung habe, so räumte zum Beispiel die englischsprachige «China Daily» gestern ein, nach der Rückkehr Hongkongs «in die Arme des Mutterlandes» vor sechs Jahren auf Grund ihrer Unerfahrenheit zahlreiche Probleme nicht bewältigt. Dazu zählte das Blatt «die traumatische wirtschaftliche Lage, sinkende Aktienkurse, ein schwer wiegendes Haushaltsdefizit und hohe Arbeitslosigkeit».
Da solche Artikel in den zentralen Medien nur mit Zustimmung der KP-Führung erscheinen dürfen, ist er als deutliches Zeichen für die wachsende Unzufriedenheit der kommunistischen Führung mit ihrem Statthalter zu werten.
Die schwerere politische Krise war aufgebrochen, nachdem 500 000 Demonstranten aus allen Teilen der Hongkonger Gesellschaft Anfang Juli gegen die Regierung protestiert hatten. Anlass war das umstrittene Sicherheitsgesetz, das bei Verrat, Subversion und «Abspaltungsversuchen» Bürgerrechte ausser Kraft setzen sollte. Tung, ein ehemaliger Reeder, dessen Unternehmen von der chinesischen Regierung einst vor dem Bankrott gerettet wurde, musste nach dem Aufmarsch das Paragrafenwerk zunächst abmildern und es dann von der Tagesordnung nehmen, nachdem selbst Peking-freundliche Mitglieder seines Kabinetts Kritik geäussert hatten.

Horrorvorstellung für die KP

Der unerwartete Erfolg ihrer Proteste hat die Organisatoren, zu denen Bürgerrechtsgruppen ebenso wie die katholische Kirche gehören, überrascht - und ermutigt. Sie hoffen nicht mehr nur darauf, das Sicherheitsgesetz vollständig zu kippen. Sie setzen auch darauf, die Bevölkerung gegen das undemokratische System Hongkongs zu mobilisieren, das von Peking-freundlichen Geschäftsleuten und KP-Zellen regiert wird, die ihre Anweisungen von den Genossen in Peking erhalten.

«Die Kundgebung zeigt, dass die Macht der Bevölkerung stärker wird», zitierten lokale Zeitungen Richard Tsoi von der Front der Bürger- und Menschenrechte. Jeder könne jetzt verstehen, so Tsoi, dass «selbst eine Regierung, die gewöhnt ist, das Volk vor den Kopf zu stossen, es nicht mehr ignorieren» könne, «wenn alle herauskommen und ihre Forderungen stellen». Besonders wichtig sei, dass viele Angehörige aus der Mittelschicht teilgenommen haben, erklärte der Vizevorsitzende der oppositionellen Demokratischen Partei, Martin Lee. Er hofft nun auf eine «grosse Koalition für ein allgemeines Wahlrecht». Das ist eine Horrorvorstellung für die KP in Peking, deren Medien die Proteste zunächst verschwiegen hatten. Doch nun hat sich die Propagandamaschine offenkundig von ihrem Schrecken erholt. Die «China Daily» warnte die stets in Anführungszeichen gesetzten «Demokraten» Hongkongs davor, zu weit zu gehen und einen «politischen Sturm» zu entfachen, der die Hongkonger Verwaltung lähmen und in eine Regierungskrise stürzen würde.

Nach dem Prinzip «Ein Land - zwei Systeme» hatten die Kommunisten Hongkong versprochen, die bestehenden Freiheiten für mindestens 50 Jahre nach der Übergabe nicht anzutasten. Nun steckt Peking in einem Dilemma: Es darf den Unmut nicht von der Polizei ersticken lassen, um die Taiwanesen nicht zu verschrecken. Nach wie vor gilt die Rückkehr Taiwans ins «Mutterland» als wichtiges nationales Ziel. Gleichzeitig muss es verhindern, dass eine schlagkräftige demokratische Bürgerbewegung entsteht.

Rubrik: Veranstaltungen