Kölner Stadt-Anzeiger (Deutschland): China: Nicht nur Wirtschaft beachten

Die Pekinger Journalistin und Bürgerrechtlerin Dai Qing (63) hat 1989 ein Buch gegen den Drei- Schluchten-Staudamm veröffentlicht und saß dafür zehn Monate im Gefängnis. Ihre Texte sind bis heute in China verboten. Mit ihr sprach Harald Maass.

KÖLNER STADT-ANZEIGER: Diese Woche reist Schröder nach China. Was erwarten Sie sich von dem Besuch?

DAI QING: Schröder muss sich hier in China klar zu Menschenrechten und Demokratie äußern. Und das nicht nur allgemein. Er sollte Einzelfälle ansprechen, wie etwa totgeprügelte Falun-Gong-Anhänger. Westliche Politiker dürfen sich in China nicht nur um kurzfristige wirtschaftliche Vorteile kümmern. Deutschland sollte China helfen, das politische System zu verbessern.

Wirtschaftlich scheint sich China doch gut zu entwickeln?

DAI: China ist nicht das, was man in Peking oder Schanghai sieht. Der Aufschwung, die imposanten Hochhäuser sind nur die Fassade. Unter der Oberfläche des rasanten Wirtschaftswachstums rumort es heftig. Ein Problem ist das kaputte Finanzsystem. Ein anderes ist das wachsende Wohlstandsgefälle. In Zentral- und Westchina leben die Menschen an vielen Orten noch wie vor 200 Jahren, in bitterer Armut. Die KP-Regierung hat es nicht geschafft, den Wohlstand in diesem Land einigermaßen gleichmäßig zu verteilen.

In letzter Zeit häufen sich Unruhen im Land. Ist Chinas Stabilität in Gefahr?

DAI: Nein. Die Proteste nehmen zwar zu. Vor kurzem gingen in einer Provinz nach einem Handgemenge 30 000 Menschen auf die Straße. Der Auslöser dieser Konflikte ist oft Armut oder ethnische Konflikte. Die Regierung hat diese Proteste jedoch völlig unter Kontrolle.

Die Situation ist also nicht mit 1989 vergleichbar, als es auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu Massendemonstrationen kam?

DAI: 1989 gingen die Studenten und Menschen auf die Straße, um für ihre politischen Ideale zu kämpfen. Heute stehen hinter den Protesten meistens Einzelinteressen. Das sind Bauern, die ihr Land verloren haben. Entlassene Arbeiter, die nicht mehr genug Geld zum Überleben haben.

Sie sprachen Probleme in Chinas Finanzsystem an.

DAI: Ich halte dies für die größte Gefahr. Chinas Banken sitzen auf riesigen Bergen fauler Kredite. Eine Finanzkrise wie 1948 könnte sich wiederholen. Ein Beispiel sind auch die Steuern: Im Moment zahlen in China nur die Armen Steuern, nicht die Reichen. Und natürlich die Korruption. In allen Schichten der Regierung, von der Spitze bis nach unten, stopfen sich die Beamten Geld in die Taschen. Das Problem ist nicht nur, dass unsere Kader Geld stehlen. Mit ihrer Politik schaden sie dem ganzen Land.

Immerhin hat die Regierung die Probleme erkannt. In den Staatsmedien wird häufiger über Korruptionsfälle berichtet. Kann sich China von innen reformieren?

DAI: Ich sehe da leider schwarz. Die Wurzel aller Übel ist, dass die Menschen in China keine politischen Rechte haben. Es gibt richtiges Parlament, das die Politik der Regierung überwacht. Der Volkskongress und der CPPCC (Chinas Konsultativkonferenz, Anm. d. Red.) sind nur Werkzeuge der Kommunistischen Partei.

Viele Chinesen haben heute Zugang zum Internet. Auf den Schulen lernt die Jugend Englisch. Führt das nicht automatisch zu mehr Öffnung und Reformen?

DAI: Es gibt in China heute Tausende bunte Magazine und Zeitungen. Aber sie dürfen nur über harmlose Dinge berichten. Wir haben das Internet, aber es wird von der Regierung kontrolliert. Die KP-Regierung erlaubt den Chinesen bis heute keine eigene politische Meinung.

Schröder setzt sich dafür ein, das 1989 verhängte Waffenembargo der EU gegen China aufzuheben. Was halten Sie davon?

DAI: Ich kann nur davor warnen, das Waffenembargo aufzuheben. Aus zwei Gründen: Die Menschenrechtssituation ist noch immer sehr schlecht. China ist noch immer ein totalitärer Staat. Zweitens ist zu befürchten, dass China diese Waffen eines Tages in einem Krieg gegen Taiwan einsetzt.


(KStA) 06.12.04


Quelle: http://de.clearharmony.net/articles/200412/20918.html

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