The Age, Australien: starker Tobak (Foto)


Canberras Hin und Her im Fall des übergelaufenen chinesischen Diplomaten Chen Yonglin ist eine direkte Folge von einem Mangel an Klarheit, Realitätssinn und Offenheit, den die [australische] Regierung in der China-Politik an den Tag legt.

Premierminister John Howard meint, und die Annahme ist berechtigt, dass China in den nächsten 50 Jahren von großer Bedeutung für Australien sein werde, und hat zu Recht alles in seiner Macht Stehende getan, um geflissentlich gute Beziehungen zu diesem Land aufzubauen. Aber die Regierung ist dabei in naiver Weise davon ausgegangen, dass es möglich sei, der unangenehmen Seite - nämlich der Tatsache, dass es sich bei China trotz mancher Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte noch immer um ein politisch repressives Regime handelt - aus dem Weg zu gehen. Die Politik der guten Beziehungen verfolgend, hat die Regierung bezüglich der hässlicheren Seite Chinas ihren Kopf in den Sand gesteckt und darauf gehofft, dass die Gesellschaft dasselbe macht.

Dann taucht plötzlich Chen auf, der um politisches Asyl bittet und gleichzeitig Chinas dunkle Seite aufzeigt. Es ist eine Seite, von der Chen eine ganze Menge zu verstehen meint. Er sagt, dass sich seine Arbeit in dem Konsulat in Sydney darauf konzentriert habe, Falun Gong und andere in China verfolgte Gruppen in Australien zu überwachen. In seinem Brief an die Einwanderungsbehörde vom 25. Mai, in dem er um politisches Asyl ersucht, heißt es: „In Anbetracht meiner Sünde, mit dieser widerrechtlichen Herrschaft in einer bösartigen Weise zusammengearbeitet zu haben, fühle ich mich äußerst elend, und angesichts des ständigen Horrors in den letzten vier Jahren sind meine Haare grau geworden.”

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Sein Appell hat die Regierung in Angst versetzt. Es konnten ja nur schlechte Neuigkeiten sein, gerade als die bilateralen Beziehungen durch Howards erfolgreichen Besuch in China und dem Fortschritt bei den Verhandlungen zu einem australisch-chinesischen Freihandelsübereinkommen neu entfacht waren. Es ist daher nicht gerade überraschend und relativ sinnvoll, dass Außenminister Alexander Downer es ablehnte, Chen die „Platinum-Mitgliedschaft” des Asyl-Schutzes, bekannt als „territoriales” Asyl, zu gewähren.

Aber glaubt jemand ernsthaft, dass man Chen nach allem, was passiert ist, wieder nach China zurückschicken kann oder wird? Zumindest mit Vladimir Petrov und auch mit der 18-jährigen Ukrainerin, die 1979 in einem roten Bikini von einem russischen Kreuzfahrtschiff aus in den Hafen von Sydney geschwommen war, hat das prima geklappt. Das territoriale Asyl war eng verknüpft mit dem Kalten Krieg. Nur in den gravierendsten Fällen wird es als Instrument eingesetzt und ist daher auch ein Ausdruck der Außenpolitik - nämlich eine Erklärung, dass dieser Mensch aus einem „unfreundlichen” Land gekommen ist. Dies ist bei Chen ganz offensichtlich nicht der Fall. Ein territoriales Visum war unnötig und wäre den Chinesen gegenüber provokativ gewesen.

Es ist nicht diese Ablehnung, die problematisch ist, sondern es ist der Fehler der Regierung, Chen nicht umgehend und richtigerweise den angemessenen Schutz gewährt zu haben. Stattdessen überlegte [die Regierung] hin und her, schob die Sache auf, und als die Affäre schließlich öffentlich bekannt wurde, verstellte sie sich. Chen wurde schnell mitgeteilt, dass er kein territoriales Asyl erhalten würde und eine andere Art von Visum beantragen müsse, falls er wirklich bleiben wolle. Dann kam eine Weile nichts mehr. Downer und das Außenministerium hofften, dass sich die ganze Sache dadurch in Luft auflösen würde, dass Chen wegginge. Ausnahmsweise ist Einwanderung mal nicht das Verbrechen. Die Regierung wird diese Woche im Parlament wegen der Äußerungen und dem Vorgehen von Downer und dessen Ministerium sowie wegen einiger Kontakte der Regierung zu den chinesischen Botschaften und Konsulaten, bei denen es auch um Einwanderung geht, schwer in die Kritik geraten.

Schließlich hat sich Chen vergangene Woche verzweifelt an die Öffentlichkeit gewandt. Die Regierung wurde davon überrascht und wirkte nervös. Downer und Amanda Vanstone, die Ministerin für Einwanderung, widersprachen sich gegenseitig bei der Darlegung der Geschehnisse. Downer behauptete, dass es gar keinen Antrag auf politisches Asyl gegeben habe. Diese Aussage fundiert auf der obskuren Tatsache, dass man gar keinen Antrag stellen kann, sondern der Minister die Initiative ergreifen muss. Die Regierung versuchte Chen wie einen gewöhnlichen Antragsteller eines Schutzvisums aussehen zu lassen.

Aber offensichtlich unterscheidet sich Chen von den etwa 1 000 Chinesen, die jährlich während eines Aufenthalts in Australien den Antrag stellen, hier bleiben zu dürfen. (2003/04 wurden 77 Schutzvisa bewilligt; die Chinesen reisen meist mit einem normalen Visum ein und stellen dann im Land den Antrag. Es gibt nicht viele Chinesen, die länger, als es ihr Visum erlaubt, im Land bleiben.) Als Diplomat ist Chen automatisch etwas Besonderes. Die Regierung hätte mit dieser Tatsache offen umgehen und sich sofort mit seinem Status beschäftigen sollen.

Es ist Unsinn zu behaupten, dass sein Fall noch bearbeitet werde. Die Bearbeitung seines Falls ist entweder eine Farce oder ein Desaster: eine Farce, wenn unterstellt wird, es gehe nur um die Anträge, und ein Desaster, wenn man ihn wirklich zurückschickt. Glaubt denn irgendjemand, dass man Chen nach all dem, was passiert ist, nach China zurückschicken kann? Kaum. Tony Abbot und Peter Costello drückten es diese Woche genauso aus. „Es besteht keinerlei Risiko, dass man ihn nach China zurückschicken wird”, sagte Abbot. Wenn es daran zu dem Zeitpunkt, als Chen sich an die Regierung wandte, irgendwelche Zweifel gab, dann sind diese spätestens seit seiner öffentlichen Stellungnahme ausgeräumt. Warum schließt man dann seinen Fall nicht einfach sauber ab?

Chens Aussagen haben einiges in Gang gesetzt. Sie trieben Hao Fengjun, einen ehemaligen Polizisten des Sicherheitsbüros 610, der Anfang des Jahres mit einem Touristenvisum einreiste und um Schutz bat, ebenfalls an die Öffentlichkeit. Dann gab es Nachrichten über einen ehemaligen Beamten der Staatssicherheit, dessen Name nicht genannt wurde und der Zeuge gewesen sein soll, wie in China ein Mann, dem man bereits den Flüchtlingsstatus anerkannt hatte, zu Tode geschlagen wurde.

Hao beschrieb detailliert, wie in China Dissidenten verfolgt würden. Er bekräftigte auch Chens Aussage, dass sich in Australien eine große Anzahl von Informanten aufhielte und berichtete, wie alle Aktivitäten der hiesigen Falun Gong-Praktizierenden nach China berichtet würden. Das war ein weiterer kurzer Einblick in eine Seite Chinas, von der die Chinesen verhindern wollen, dass sie publik wird. Und die australische Regierung zieht es vor, sich möglichst nicht mit dieser Sache zu beschäftigen.

Die ASIO wird den Informationen von Chen und Hao nachgehen, wenn auch nicht gerade mit großer Begeisterung. Es wird nicht erwartet, dass es eine Verbindung zur Spitze chinesischer Spionage in Australien gibt und es somit nicht um das „Ausspionieren” australischer Geheimnisse (strategischer oder wirtschaftlicher Art) geht, sondern eher darum, dass Chinesen andere Chinesen überwachen (was zwar nicht akzeptabel ist, aber unsere Geheimdienste auch nicht besonders interessiert).

Es ist altbekannt, dass die Chinesen Falun Gong und andere Dissidentengruppen in Australien überwachen und belästigen. In den vergangenen Jahren haben australische Behörden die chinesischen Bürokraten mehrfach davor gewarnt, die Sache nicht zu weit zu treiben.

Sowohl die chinesische als auch die australische Regierung sind beide sehr daran interessiert, dass die Chen-Affäre die Beziehung beider Länder nicht tiefgehender beeinträchtigt. Dabei wäre es hilfreich, wenn man sich über Chens Zukunft schnell einigen könnte. Aber das lässt immer noch die Frage offen, wie die Regierung mit dem großen Thema der Menschenrechtsverletzungen in China umgehen soll.

Diese sind in einem neuen Bericht von Amnesty International für das Jahr 2004 dokumentiert. Der Bericht besagt, dass es in einigen Gebieten Reformansätze gegeben habe, aber „dies hatte keinen wesentlichen Einfluss auf die ernsthaften und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen, die quer durch das ganze Land verübt werden. Zehntausende Menschen werden weiterhin entgegen ihrer grundlegenden Menschenrechte festgehalten oder eingesperrt und stehen unter einem hohen Risiko, gefoltert oder misshandelt zu werden.” Der Bericht besagt weiter, dass „tausende Menschen zu Tode verurteilt oder hingerichtet wurden, viele nach unfairen Gerichtsprozessen”.

Was im politischen Verlauf der Chen-Affäre ans Tageslicht kommt, ist die schwache Haltung der australischen Regierung bezüglich der Menschenrechte in China. Nicht dass sich die Öffentlichkeit zu besorgt gezeigt hätte. Abgesehen von dem Grünen Bob Brown hat es in Australien nicht dieselbe Erschütterung wie beispielsweise in den USA hervorgerufen, wo sich Leute aus allen Lagern zu dem chinesischen Verhalten geäußert haben.

Derzeit gehen Rechtsanwälte für Falun Gong vor dem Obersten Gerichtshof gegen die Anordnungen Downers vor, die die Polizei autorisieren, die [Falun Gong-] Praktizierenden davon abzuhalten, Spruchbänder vor der chinesischen Botschaft zu zeigen oder Musik abzuspielen. Downer hat diese Anordnungen seit 2002 fortlaufend erlassen und stützt sich dabei auf ein internationales Abkommen, dass die Würde diplomatischer Aufgaben schützt. Aber man stelle sich beispielsweise mal vor, dass man es Menschen verbieten würde, aus Protest vor dem Parlament Spruchbänder zu zeigen.

Im Jahr 2003, als Bob Brown mit seinem Grünen-Kollegen Kerry Nettle die Rede von Präsident George Bush vor dem australischen Parlament unterbrochen hatte, wurden die beiden Senatoren von der parlamentarischen Sitzung des folgenden Tages, bei der Präsident Hu Jintao sprach, ausgeschlossen. Die Chinesen hatten gedroht, dass ihr Präsident nicht vorsprechen würde, wenn ein „Zwischenfall” zu befürchten sei.

Noch vor wenigen Jahren hatte Australien für gewöhnlich eine Resolution der UN-Menschenrechtskommission mitinitiiert. Dies wurde nun durch einen Menschenrechtsdialog mit China ersetzt. Das einzige Ergebnis dessen ist, dass das ganze Thema heruntergespielt wird. In einer Vorlage zu einer parlamentarischen Untersuchung des australischen Menschenrechtsdialogs im Mai 2004 argumentierte die Akademikerin und Menschenrechtsexpertin Ann Kent (von der Australian National University, Fachbereich Jura), dass der Dialog weder durchschaubar noch effektiv sei. Sie sagte, dass China als Voraussetzung zu den Gesprächen verlange, dass Australien keine Resolutionen mehr mitinitiiere und Australien [wiederum] verlange, dass der Dialog die bilateralen Beziehungen nicht stören solle.

„Als Ergebnis dieser Voraussetzungen geht Australien jedes Jahr mit bereits hinter seinem Rücken zusammengebunden Händen in die bilateralen Gespräche”, schrieb Ann Kent. „Es gibt keinerlei Verhandlungsmöglichkeiten: weder gibt es die Möglichkeit, international eine Missbilligung auszusprechen, noch kann Australien, aus Furcht die Beziehung zu destabilisieren, in dieser Frage angemessenen Druck ausüben.” Kent arbeitete freiwillig an der Vorlage mit, wurde jedoch trotz ihrer Fachkenntnis nicht dazu eingeladen, Beweise anzuführen.

Es hat keinen Sinn, dass die Regierung sich selbst oder China vormacht, dass die Beziehung zu China als rundherum unproblematisch bezeichnet werden könne. Ja, wir sollten alles uns Mögliche unternehmen, eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zu erzielen. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass dies unsere Stimme als freiheitliche Demokratie, die wichtige Menschenrechte und Werte beinhaltet und, wenn angebracht, auch dafür eintritt, beeinträchtigt.