Salzburger Nachrichten, 02.07.2003: Bürgerzorn in Hongkong
Hunderttausende Menschen demonstrierten zum 6. Jahrestag der Machtübernahme Pekings. Die Verwaltung Hongkongs plant neue Restriktionen.
"Noch nie im Leben habe ich demonstriert", berichtet der Mann mit dem schwarzen T-Shirt. Aber nun sei er auf der Straße, weil "die Regierung ja sonst nicht auf uns hört". Auch seine Kollegen, die "sonst nie über Politik reden", sagt der rundliche Altenpfleger, seien heute dabei. "Wir haben es einfach satt."
Es ist der sechste Jahrestag der Rückkehr Hongkongs unter die chinesische Regierung, und die von Peking eingesetzte Führung hat der Bevölkerung einen Feiertag geschenkt. Doch die Menschen spielen nicht mit: Sie veranstalten die größte Protestkundgebung seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989. Auf bis zu 400.000 Demonstranten schätzten die Organisatoren den Strom, der sich in der Nachmittagshitze durch die Straßenschluchten zog. Es sind viele junge Leute und Familien, die - mit Handy und Wasserflasche in der Hand - vom Victoria-Park zum Regierungsgebäude im Geschäftszentrum Hongkongs ziehen.
"Wahlrecht für das Volk!"
Sie rufen Slogans wie: "Tung Cheehwa tritt ab" und "Wahlrecht für das Volk!" Geplant als Protest gegen ein neues Sicherheitsgesetz, das scharfe Strafen gegen Staatsverrat, Subversion und Aufwiegelung vorsieht, erweist sich der Marsch als Referendum der Straße gegen die von Peking am 1. Juli 1997 eingesetzte Führung der "Sonderverwaltungsregion" Hongkong.
Die Stimmung ist schlecht in der Sieben-Millionen-Metropole: Noch nie war die Arbeitslosigkeit mit mehr als acht Prozent derart hoch. Viele Betriebe gehen bankrott, weil die Exporte einbrechen. Zudem sind die Touristen wegen SARS ausgeblieben: "Keiner von uns hat bislang einen Job gefunden", klagt der 24-jährige Sancho Ching, der gerade sein Statistik-Studium abgeschlossen hat. "Wir lieben Hongkong", sagt er, "aber wir sind mit der Regierung nicht zufrieden, weil sie so unfähig ist."
Schuld sei, sagt Sancho, und seine Nachbarn nicken, vor allem der seit 1997 regierende Verwaltungschef Tung Cheehwa, der "nur auf Peking hört und sich nicht für unsere Interessen einsetzt". Aus dem blühenden Territorium, das Hongkong vor sechs Jahren war, sei eine "traurige Stadt" geworden.
Unzufrieden sind die Hongkonger auch über die Arroganz ihrer Herrscher, die sie weder wählen noch abwählen können. Während Tung das Sicherheitsgesetz vorlegte, um seinen Pekinger Chefs zu gefallen, zeigte er bislang keinerlei Neigung, über Wahlen zu diskutieren - obwohl die Verfassung Hongkongs für die Zeit nach 2007 mehr Bürgerbeteiligung erlaubt.
Erschöpft hat sich ein Geschäftsmann auf ein Mäuerchen gesetzt und beobachtet die Massen, die Stunde um Stunde durch die Hennessy Road strömen. "Eigentlich", sagt er, "dürfte ich hier gar nicht sein. Ich mache in China gute Geschäfte." Aber, so fährt er fort, "ich kann es nicht ertragen, dass diese Regierung alles zunichte macht, was wir haben und die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel setzt." Die größte Sorge: Wenn Peking die 1997 versprochene politische Freiheit für Hongkong durch immer schärfere Gesetze gefährde, "haben wir alles verloren, was uns von Schanghai und anderen chinesischen Städte unterscheidet."
Viele meinen, dass Hongkong im Auftrag Pekings das neue Gesetz durchpeitschen will, um oppositionelle und religiöse Gruppen einzuschränken. Dazu gehören nicht nur die Falun-Gong-Bewegung, sondern auch vatikantreue Katholiken, unabhängige Gewerkschafter und Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International. Journalisten müssten wie ihre Kollegen in China fürchten, nach Laune der Behörden wegen Geheimnisverrats angeklagt zu werden.
Tung hatte wenig erfolgreich versucht, die Bürger von der Demonstration abzuhalten: Schwimmbä-der, Kinos, Museen gewährten gratis Einlass.
Vorher hatte er seinen Vorgesetzten, den chinesischen Premier Wen Jiabao, bewirtet. Um seine Verbundenheit zu den Hongkongern zu zeigen, besuchte Wen von der SARS-Epidemie betroffene Familien. Über die Sorgen der Demonstranten verlor er kein Wort.
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